Social Criticism

(German) Paternalismus: Willkommen beim betreuten Pinkeln

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Pa·ter·na·li̱s·mus

Substantiv [der]

Bestreben [eines Staates], seine Bürger zu bevormunden.

Eine Herrschaftsordnung, die ihre Autorität und Legitimierung auf eine vormundschaftliche Beziehung zwischen Herrscher/Herrschern und beherrschten Personen begründet.

Als paternalistisch wird umgangssprachlich auch eine Handlung bezeichnet, wenn sie gegen den Willen, aber auf das vermeintliche Wohl eines anderen gerichtet ist. Paternalistische Regelungen werden von den Adressaten häufig als Bevormundung angesehen.

 

Bis zu diesem Augenblick warst du vielleicht noch völlig davon überzeugt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Aber was wäre, wenn ich dir jetzt sage, das dir deine Entscheidungen dutzende male am Tag unwissentlich von anderen abgenommen werden und du längst nicht mehr Herr deines Schicksals bist. Wahrscheinlich bestimmst du nur noch 5% deines Lebens wirklich selbst. Alle anderen Entscheidungen werden dir mittlerweile abgenommen -manchmal per Gesetz, aber oft auch so sublim und alltäglich, das du es gar nicht mehr bemerkst.

Vielleicht kommen dir folgende Situationen bekannt vor:

Du steigst in dein Auto, willst losfahren und plötzlich fängt es an zu piepen -du bist nicht angeschnallt. Du betätigst kurz den Scheibenwischer -und er meint, er wüsste am besten, nach wie vielen Wischbewegungen er wieder aufhören möchte -selbst wenn er längst über eine furztrockene Scheibe quietscht. In der Toillette deines Lieblingsitalieners zeigt dir eine aufgeklebte Fliege im Pissoir, wohin du bitte deinen Strahl lenken möchtest (zuhause hat deine Frau schon vor längerer Zeit ein Schild angebracht, das dich zum Sitzen auffordert).

Der Paternalismus hat sich in den letzten Jahrzehnten stückchenweise in unser Leben geschlichen.

Im Supermarkt signalisieren dir Etiketten auf den Lebensmitteln, was gesund für dich ist, und was du besser meiden solltest, um dein Gewissen zu beruhigen. Auf dem Weg nach Hause steht selbst an jeder unwichtigen Seitenstrasse eine Ampel, damit ja niemand auf die absurde Idee kommt, einen selbstständigen Abbiegevorgang einzuleiten. Während dem Tanken fällt dir ein, das du eine Flasche Bourbon mitnehmen könntest, bis dir der Verkäufer sagt, das abends grundsätzlich keine hochprozentigen Getränke mehr ausgegeben werden -zu deinem eigenen Wohl natürlich. Dir verlangt nach einer Zigarrette, aber auf der Packung erinnern dich die Bilder schwarzer, abgefallener Geschlechtsteile daran, das du anscheinend nicht weisst, was schädlich für dich ist.

Und diese Kette lässt sich beliebig fortsetzen: Ein australisches Gericht zwingt einen Zeugen Jehovas gegen seine religiöse Überzeugung zu einer lebensverlängernden Bluttransfusion. Der deutsche Staat schreibt Krankenversicherungen für jeden Bürger gesetzlich vor. Während des letzten Bundestagswahlkampfes denkt der damalige FDP-Gesundheitsminister öffentlich über eine obligatorische Impfpflicht gegen Masern nach, der SPD-Vorsitzende wünscht sich ein generelles Tempolimit für Autobahnen und die Grünen fordern einen fleischfreien „Veggieday“ in deutschen Kantinen. Es gibt Debatten darüber, ob Energydrinks für jugendliche verboten werden sollen und ob Radfahrer per Vorschrift einen Helm tragen müssen. Motorradfahrer dürfen sich schon seit langem nicht mehr den Wind durch die Haare wehen lassen.

Selbst unser Computer bevormundet uns: Windows besteht mit sanftem Nachdruck darauf, das wir all unsere Dateien im Order “Eigene Dokumente” speichern und auch unser Browser speichert Dateien in einem Ordner seiner Wahl, bis wir ihm explizit sagen, das wir den Download-Ordner selbst auswählen möchten. Unser Espresso-Automat lässt nur noch die nötigsten Einstellungen zu: grosse Tasse, kleine Tasse.

Für alles andere sind wir anscheinend zu dumm, deshalb ist es besser, uns alle möglichen Entscheidungen einfach abzunehmen. Wir leben in einer Welt der ungefragten Bevormundung.

 

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Andere wissen es besser als du

Was haben diese Beispiele gemeinsam? Alle beschreiben Situationen, in denen Dritte über die Köpfe der Betroffenen hinweg Entscheidungen treffen, die angeblich deren Wohl dienen sollen. Es handelt sich um Paternalismus. Paternalismus hat viele Gesichter. Paternalismus ist eine sanfte Diktatur, die uns eigene Entscheidungen mit der Begründung abnimmt, wir wüssten es ja nicht besser.

Paternalismus entmündigt.

Die Stanford Encyclopedia of Philosophy beschreibt ihn als “Einflussnahme eines Staates oder eines Individuums auf eine andere Person gegen deren Willen und durch die Annahme motiviert oder verteidigt, der Person gehe es dadurch besser oder sie werde vor Schaden bewahrt”.

Natürlich sind Gesetze nötig. Niemand würde auf die Idee kommen, die Strassenverkehrsordnung als Bevormundung anzusehen, denn sie wird im Grossen und Ganzen als nützlich empfunden. Auch wenn Eltern ihren Kindern vorschreiben, wann sie ins Bett zu gehen haben, finden wir das durchaus sinnvoll und begründet. Nur: wir sind keine Kinder! Wir sind auch keine demente Senioren, die im Altersheim bevormundet werden, damit sie leichter handzuhaben sind. Wir sind erwachsene, mündige Bürger. Aber sieht der Staat uns auch so? Oder sieht er uns grundsätzlich als naive, grenzdebile Wesen ohne gesunden Menschenverstand, die zwar noch genug Grips haben, um ihre Steuern zu bezahlen, aber sonst bitte möglichst vor sich selbst geschützt werden sollten?

Dann sei allerdings die Frage erlaubt, ob man Politikern mehr gesunden Menschenverstand zutrauen kann, als den Bürgern. Kaum ein Politiker ist schliesslich jemals einem geregelten Beruf nachgegangen oder hat profunde Erfahrungen in den Niederungen des menschlichen Miteinanders sammeln dürfen. Politiker gelten nicht völlig umsonst als weltfremd und theoretisch. Sieht dann also so “gesunder Menschenverstand” aus, den wir Bürger der Meinung unserer Politiker nach nicht besitzen?

Fehler zu machen ist wichtig

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Der Paternalismus hat sich in den letzten Jahrzehnten stückchenweise in unser Leben geschlichen, nach und nach so viele alltägliche Kleinigkeiten vereinnahmt, das den meisten von uns gar nicht aufgefallen ist, wie wenig Entscheidungsfreiheit letztendlich noch übrig geblieben ist. Wer das nicht so empfindet ist aller Wahrscheinlichkeit nach bereits so angepasst, das er in keinster Weise mehr aus dem statistischen Mittel herausragt. Manche Zeitgenossen empfinden es auch durchaus als beruhigend, wenn ihnen so viele Entscheidungen wie möglich abgenommen werden. Ein Rückfall in die behütete Kindheit quasi. Und das preussische Erbgut, das die meisten deutschen immer noch mit sich herumtragen, will schliesslich gehorchen. Nur wo Vorschriften befolgt werden, kann es Ordnung geben. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder selbst entscheidet?

Das Problem ist nur: wer verlernt, eigene Entscheidungen zu treffen -und damit auch eigenverantwortlich die entsprechenden Konsequenzen zu tragen- kann weder Weisheit noch Lebenserfahrung sammeln. Er gehorcht, weil man ihn dazu auffordert, nicht weil seine Erfahrung ihm sagt, was gut für ihn ist. Keine Entscheidungen treffen zu dürfen macht dumm, weil es einem das Denken abnimmt.

Ein paternalistischer Staat richtet bei seinen Bürgern das selbe an, was Helikopter-Eltern ihren Kindern antun: sie nehmen ihnen die Freiheit, Entscheidungen zu treffen und aus ihnen zu lernen -ganz egal, was dabei letztendlich heraus kommt. Wir alle begreifen, das unsere Kinder sich einfach mal -auf gut Deutsch- ordentlich auf die Fresse legen müssen, um aus ihren Fehlern zu lernen. Auch wenn es uns weh tut, dabei zusehen zu müssen. Aber wer sich als Kind nie das Knie aufgeschürft hat, kennt seine eigenen Grenzen nicht.

Die Kernfrage des Paternalismus ist: darf ein Mensch oder eine staatliche Macht für mich und über meinen Willen hinweg entscheiden, was gut für mich ist, so lange ich im vollen Besitz meiner geistigen Kräfte bin und nur ich selbst -und kein anderer sonst- durch mein Verhalten Schaden nehmen könnte? Hier gehen die Meinungen sehr weit auseinander.

Auf der nächsten Seite: Das John Stuart Mill Dilemma

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Recent Comments

  1. es sind die endogenen Deformationen im deutschen Gemüt
    die diesen immergleichen Spasmus des prohibitierens
    des befehlens und natürlich gehorchens hervorbringen
    In kaum einem anderen Land kann man das in dieser deutsch gründlichen Inbrunst beobachten und das wo wir es nach zwei Zwansstaatssystem gelernt haben sollten.

  2. Ich denke, es liegt einfach nur an unserem preussischen Erbe -die deutschen sind es gewohnt, das man ihnen sagt, was sie tun sollen.Vielleicht sind sie auch zu ängstlich, um eigene Entscheidungen zu treffen. Es gibt eben Länder, in denen Menschen mehrheitlich eine Macher-Mentalität esitzen und Länder, in denen die Menschen eher Führung brauchen. Deutschland gehört zu letzteren -das zeigt sich u.a. an der niedriegen Selbständigenrate hierzulande. Das ist den meisten Deutschen viel zu viel Risiko und viel zu viel Eigenverantwortung, also ziehen sie es vor, sich vom Chef sagen zu lassen, was getan werden soll…

  3. die monopole "Wirklichkeits"inszenierung der Staatssprachrohre vom Schlage B.Zeitung sekundieren
    dem eifrig zunehmenden paternalistischen Staatswesen.
    Die offenkundige Pönalisierung rundet den Reigen der Volkserziehung ab.Der Deutsche trägt es willig und ist in Agonie entrückt.Personen die aus dieser Lethargie heraustreten
    sind obligatorisch als verdächtig einzustufen.
    Weiteres regeln dann die Medien..Die Methode ist nicht neu
    wirksam ist sie jedenfalls noch..

  4. Hallo,
    ich recherchiere gerade für eine Unterrichtsreihe zum Thema politische Philosophie und mir ist in deiner Argumentation etwas aufgefallen, auf das ich gerne hinweisen würde.
    In seinem Aufsatz "Idee und Wirklichkeit der Selbstbestimmung im modernen Staat. Von der Rückkehr des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit" unterscheidet Uwe Volkmann (ein mir bis dato auch unbekannter Rechtswissenschaftler) zwischen Freiheit und Autonomie.
    Er bemängelt, dass diese Unterscheidung heutzutage nicht mehr gemacht wird, sondern beide Begriffe synonym verwendet werden. Und ich würde jetzt sagen, um meine Kritik zu pointieren, die Argumentation deines Artikels macht diese Unterscheidung auch nicht. Der Mensch solle frei sein, gerade dann, wenn er erwachsen sprich mündig ist. Man solle ihm nicht alle Entscheidungen abnehmen, denn das mache ihn tatsächlich unmündig. So lautet doch die Forderung in nuce.
    Ich würde an dieser Stelle also einwenden, dass das Erreichen von 18 Jahren nicht automatisch Mündigkeit mit sich bringt. Juristische Mündigkeit im Sinne von Verantwortlichkeit ja. Nicht aber tatsächliche Mündigkeit. Uwe Volkmann schrieb, dass Freiheit gepaart mit moralischer Verantwortlichkeit oder Mündigkeit zu Autonomie führe. Ein autonomer Mensch benötigt dann in der Tat keine paternalistischen Gesetze, weil er weiß, dass er den Bourbon erst trinken sollte, wenn er Zuhause ist. Oder nur so viel, dass er andere nicht in Gefahr bringt.
    Ich klinge jetzt fast wie ein Konservativer: der Staat kann oder will bei den Bürgern vielleicht keine Moral mehr voraussetzen. Alle fordern Freiheit, sind aber von Autonomie weit entfernt, da sie sich nur noch dann an die Gesetze halten, wenn sie Strafen fürchten usw. Und dort wo das Maß an Freiheit steigt, muss dann auch das Maß an Sicherheit steigen, damit ich mich vor der Freiheit der Anderen nicht fürchten muss.
    Also, was sagst du zu der These: der Staat verlässt sich begründet nicht mehr auf die Mündigkeit der Bürger. ? Bzw. Der Staat hat ja auch die Aufgabe Sicherheit herzustellen. Dieser kommt er nach, wenn er eine verpflichtende Krankenversicherung zum Gesetz macht.

  5. Ein guter Einwand. Ich denke, man kann grundsätzlich zwei Situationen unterscheiden: Entscheidungen, mit denen ein Individuum sich potentiell SELBST schädigt, und solche, durch die potentiell ANDERE geschädigt würden.

    Ein vernunfbegabtes Wesen muss grundsätzlich in der Lage sein, eigene Entscheidungen in die Tat umzusetzen, ob die daraus resultierenden Konsequenzen für dieses Individuum nun gut oder schlecht sind. Das ist für mich das "Gesetz des freien Willens". Nur so lernt und reift das entsprechende Individuum -indem es die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen trägt. Wenn man es vor diesen Konsequenzen bewahrt, oder sogar dafür sorgt, das es niemals mit ihnen in Berührung kommt, erzeugt man eine Generation von weltfremden Menschen ohne praktische Intelligenz.

    ABER: was, wenn durch die Tat eines Individuums andere Menschen gefährdet würden? Dann, und NUR DANN hat eine übergeordnete Instanz eigentlich das Recht, sich über den freien Willen des Individuums hinwegzusetzen, ihn zu zwingen oder zu bevormunden.

    Worauf mein Artikel aber eigentlich abzielt, ist eine viel subtilere Ebene: der Staat ist ÜBERVORSORGLICH. Er nimmt uns nicht nur die meisten Entscheidungen, sondern bereits das ÜBERDENKEN möglicher Konsequenzen ab. Er blockiert damit den nötigen und lebenswichtigen Lernprozess. Und zwar in solch einem Ausmass, das vom Einzelnen gar nicht mehr verlangt wird, die Konsequenzen seines Tuns detailliert zu überdenken.

    Was passiert mit überbehüteten Kindern, deren Helikopter-Eltern dauernd um sie herumkreisen? Sie werden entscheidungsschwach, weltfremd, zögerlich, manipulierbar. Das ist durch Studien mittlerweile deutlich belegt. Sie vertrauen der eigenen Erfahrung nicht mehr und sind dazu noch anfälliger für Drogenkonsum als jede andere Gruppe. Und genau das ist es, was der Staat momentan mit uns macht. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren, aber "Nächstenliebe" ist sicher nicht der Beweggrund des Staates. Eine Eigenschaft, die mir bei Deutschen immer wieder auffällt, ist, das sie sich gegenseitig seltsamerweise für dumm halten. Das spiegelt sich nicht nur im Umgang zwischen Forumusern hierzulande wieder, sondern eben auch zwischen Politikern und Bürgern. Woher diese Mentalität kommt, ist mir schleierhaft.

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