Wird wirklich alle paar Minuten in Deutschland ein Kind entführt? Leiden wir alle unter einer Euro-Krise? Scheitern Ehen grundsätzlich? Wir alle glauben, die Welt um uns herum zu kennen -und dementsprechend treffen wir unsere Entscheidungen. Aber kennen wir sie wirklich, oder haben wir nur ein Bild von ihr im Kopf, das durch Fernsehen und Zeitungen erzeugt wurde? Was ist überhaupt Wirklichkeit?
Die Frage „Was ist Wirklichkeit?“ klingt zwar recht philosophisch, sie hat aber durchaus einen knallharten Bezug zu unserem Alltag. Sie beeinflusst jeden von uns. Täglich. Bei fast jeder Entscheidung die wir treffen. Unser eigenes Bild von der Realität bestimmt, wie wir uns verhalten, was wir von unseren Mitmenschen denken, wie lange unsere Kinder draussen bleiben dürfen, ob wir unserem Ehepartner vertrauen oder welche Partei wir wählen.
Was also ist Wirklichkeit? Das, was wir als Realität empfinden, ist das, was wir von der Welt um uns herum wahrnehmen. Oder wahrnehmen wollen. Unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit wird durch unser Alter bestimmt, unsere Intelligenz, Erfahrung, Bildung, Herkunft und sogar unserer momentanen Befindlichkeit. Aber vor allem nehmen wir die Wirklichkeit so wahr, wie man sie uns zeigt und erklärt. Und dabei spielen Medien wie Zeitung, Fernsehen und Internet eine grössere Rolle, als uns bewusst ist.
Als moderne Menschen sind wir der Meinung, wie wüssten heute mehr über die Welt, als der Mensch vor ein- oder zweihundert Jahren. Allerdings vergessen wir dabei einen wichtigen Umstand: unser Wissen über die Welt stammt heutzutage fast ausschliesslich aus den Medien. Aber gerade diese -ob Fernsehen oder Internet- sind es meist, die die meisten Menschen an die Wohnzimmercouch binden und dafür sorgen, das man eigentlich nichts mehrvon der Welt dort draussen mitbekommt. Und so wird das Bild, das man sich von der Welt macht, immer einseitiger.
Die Tradition der Wanderjahre gibt es nicht mehr
Zwischen dem Spätmittelalter und der Industrialisierung gab es in unserer Kultur die Tradition der Walz, die sogenannten Wanderjahre. Nach Abschluss ihrer Lehrzeit begaben sich Handwerksgesellen in der Regel auf eine mehrjährige Wanderschaft. Die Gesellen sollten so vor allem neue Arbeitspraktiken, fremde Orte, Regionen und Länder kennenlernen, aber auch Lebenserfahrung sammeln. Diese Tradition ist inzwischen in Vergessenheit geraten.
Der moderne Mensch lebt in einer kleinen Blase.
Im Gegensatz zum mitterlalterlichen Handwerksgesellen, der auf seiner Wanderschaft viele Landstriche durchquert und dabei auf viele verschiedene Menschen und Mentalitäten trifft, lebt der moderne Mensch in einer kleinen Blase. Die besteht meist nur aus seiner engsten Familie, einigen ausgesuchten Bekannten -und dem Fernseher. Wir empfinden uns heute als „intelligenter“ und „gebildeter“ als unsere Vorfahren, weil wir aus Fernsehdokus Dinge wissen, die für unseren Alltag völlig irrelevant sind, aber dabei ist uns gar nicht bewusst, das wir selbst eigentlich gar nichts mehr von der Welt um uns herum mitbekommen.
Unsere einzigen wirklichen Informationsquellen sind Fernsehen, Internet und Zeitungen, nicht die lebendige Welt um uns herum. Durch die Ankopplung an diese Medien haben wir das Gefühl, ein Fenster zur Welt zu haben -ohne dabei das bequeme Wohnzimmer verlassen zu müssen. Und gerade diese Reduzierung unserer Informationsquellen hat die fatale Folge, das wir jeder Nachricht, die wir dort aufschnappen, um so mehr Bedeutung zumessen. Denn meist ist es zugleich auch unser einziges Fenster zur Welt.
In diesem Artikel geht es nicht darum, ob und wie Zeitung und Fernsehen uns bewusst manipulieren. Es gibt zwar viele Fälle, in denen genau das nachgewiesen wurde und gerade der Werbeslogan der BILD-Zeitung spricht hier Bände („Bild dir deine Meinung“), aber so weit wollen wir hier gar nicht gehen. Nein, es reicht schon, wenn man sich überhaupt an die Medienlandschaft ankoppelt. Es reicht schon, wenn unsere einzigen verfügbaren Informationsquellen Fernsehen und Internet sind. Ganz egal, ob man uns dann auch noch bewusst manipuliert, oder nicht.
Gebildete Menschen tappen eher in die Informationsfalle
Das paradoxe an dieser Sache: je „gebildeter“ man sich selbst einstuft und je mehr verschiedene Zeitungen man liest (man möchte sich ja schliesslich ein umfassendes Bild von einem Thema machen), desto einseitiger ist das Bild, das wir uns machen! Warum?
Medienberichte sollen die Emotionen der Leser ansprechen.
Ein Beispiel: irgendwo in Deutschland wird ein Kind entführt. Die betreffende Polizeiinspektion gibt diese Information routinemässig an die zentralen Nachrichtenagenturen weiter (in der Regel Reuters und dpa). Die verfassen dann aus den wenigen Informationen, die die Polizei weitergegeben hat, einen Grundartikel, der dann an alle Zeitungen, Printmedien, Onlineportale und Nachrichtensendungen im Fernsehen geht. Infolgedessen wird jede Zeitung, jedes Portal und jede Nachrichtensendung im Laufe des Tages über diesen Fall berichten. Wir werden also von allen Seiten mit dieser Nachricht bombardiert.
Um Sendezeit und Printseiten zu füllen, und vor allem, wenn es um ein Thema geht, das den Leser bewegt, wird der eigentliche Artikel dann von den Redaktionen noch ein wenig „ausführlicher“ verfasst, sprich: aufgebläht. Zeitungen wie die BILD klingeln dann gerne an der Haustüre der Mutter, um Bilder von einem tränenüberströmten Gesicht einzufangen oder sprechen mit einem Nachbarn, um ein „Interview aus dem Umfeld des Opfers“ zu ergattern. Das alles dient nicht der Aufklärung des Falles, sondern soll nur die Emotionen des Lesers ansprechen. Er soll sich mit diesem Fall identifizieren, als ginge es um sein eigenes Kind.
Medienberichte über Kindesentführungen treffen ins Herz jedes Elternteils, weil die eigene Lebenswelt betroffen ist. Oft entsteht dann das Gefühl, heute gebe es mehr solcher Fälle als noch vor wenigen Jahren. Das ist aber falsch, wie Kriminalstatistiker betonen. Die Zahl hat sich in den letzten Jahren nicht erhöht. Nur die mediale Präsenz dieses Themas ist angestiegen.
Besorgte Eltern -und paradoxerweise gerade jene, die sich für gebildet halten und sich gerne regelmässig über Fernsehen und Zeitung informieren- nehmen diese schockierende Nachricht dann natürlich viel intensiver wahr, als Eltern, die den Medien nur wenig Aufmerksamkeit schenken. So entsteht nach und nach ein Bild der Wirklichkeit in unserem Kopf, das mit dem realen Leben nicht unbedingt in Einklang stehen muss.
Mit fast jedem Thema, das sich in den Medien wiederspiegelt, ist es das gleiche: Bilder einer verwahrlosten Flüchtlingsunterkunft erzeugen in uns das Gefühl, „dieses Pack“ könne doch nicht mal Ordnung halten. Ein einzelner Schüler, der Amok läuft, sorgt dafür, das wir unsere Kinder nur noch mit einem mulmigen Gefühl zur Schule schicken. So schlimm manche dieser Vorfälle auch sind: meist sind es Einzelfälle, die aber durch die intensive Berichterstattung von uns verzerrt wahrgenommen werden. Wir ordnen sie in die Schublade „allgemeingültig“ ein. Einem Thema, das tagelang durch alle Zeitungen gezogen wird, geben wir instinktiv eine grössere Bedeutung.
Noch nie war die Welt so sicher wie heute
Hand auf’s Herz: wie viel sieht der moderne Mensch heutzutage vom Rest der Welt? Wir machen einmal im Jahr Urlaub, und das dann meist nicht im Herzen eines Landes mitten unter Einheimischen, sondern in den Bettenburgen eines Touristenzentrums, in dem man uns ja auch eine falsche Wirklichkeit vorsetzt. Ansonsten wissen wir eigentlich nichts von der Welt. Unsere einzige Informationsquellen sind Zeitung und Fernsehen. Und diese bestätigen uns ja anscheinend darin, wie schlecht und verdorben die Welt doch im Grunde ist.
Die Wahrheit aber ist: noch nie war die Welt so sicher, wie heute! Zumindest was das Leben in unserem Land betrifft (in anderen Teilen der Welt sieht das mitunter anders aus). Sofern man nicht gerade in Frankfurt oder der Münchner Innenstadt wohnt, besteht eigentlich kein Anlass, seine Kinder wie Gefangene zu halten -was viele Eltern, die den Medien zu viel Aufmerksamkeit widmen, leider tun. Da wohnt man in einem der sichersten Länder dieser Welt, dazu noch im sichersten Bundesland des Landes, dort noch in der sichersten, verschlafensten Kleinstadt, in der nichts, aber auch gar nichts aufregendes passiert – und glaubt dennoch, das an jeder Ecke ein pädophiler Mann steht, der kein besseres Hobby hat, als das eigene Kind zu entführen.
Und: Je komplexer die Welt um uns herum wird, desto grösser wird unser Drang zur Vereinfachung. Wir neigen dann dazu, Dinge für uns überschaubar zu halten, um uns in diesem Informationsdschungel noch zurecht zu finden. Deshalb ordnen wir jede Information in eine entsprechende Schublade. Einzelfälle werden dann zum Prinzip erklärt.
Gegen die Informationsfalle, in die wir um so eher geraten, je „gebildeter“ wir sind und je mehr Zeitungen wir lesen, gibt es nur ein wirklich wirksames Mittel: Fernseher aus, Zeitung aus der Hand -und raus in die wirkliche Welt.
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