170 Jahre später
“War er doch zu alt für diese Tortur?”
2014. Nach fast 170 Jahren sollen die Rätsel um Franklins Schicksal endlich gelöst werden. Taucher, Unterwasser-Archäologen, Sonar-Experten – mehrere Wissenschaftliche Institutionen sind beteiligt. Es ist die größte von sechs Suchexpeditionen unter Leitung der kanadischen Regierung. Für die Leiter der Expedition ist der Aufwand gerechtfertigt, geht es doch um das größte Geheimnis in der Geschichte der Entdeckungsreisen. Könnte man das Rätsel der Franklin-Expedition endlich aufklären, ginge für viele der beteiligten Wissenschaftler ein Lebenstraum in Erfüllung.
Die Expedition hofft, mindestens eines von Franklins Schiffen zu orten. Eineinhalb Jahrhunderte lang hatten unzählige Suchmannschaften nach Überresten der Franklin Expedition gefahndet. Mit zwei Eisbrechern, mehreren leichteren Schiffen und hochmoderner Technik ist dies die aufwendigste Suche, die jemals unternommen wurde, um die beiden verschollenen Schiffe zu finden.
Das Problem: es gibt nur wenige Informationen über Franklins Route ins Polarmeer.
Von der britischen Admiralität in London erhielt Franklin seinen Auftrag. 1845 segelt Franklin nach Norden. Er kann sich ausschliesslich an Seekarten orientieren, denn einige Gebiete der Arktis sind bereits befahren worden und bekannt. Aber Franklin hat eindeutige Instruktionen: er soll über die Grenzen der bekannten Welt hinaus segeln. Dorthin, wo noch ein verlockender, weißer Fleck auf der Landkarte ist. Ihre Seekarten waren also nur ein Teil dessen, woran sie sich orientieren konnten.
Das Polarmeer ist kein großer, offener Ozean. Hier gibt es unzählige, kleine Inseln. Und in diesem eisigen Labyrinth verschwand Franklin. Genau dorthin wagt sich die Expedition des Jahres 2014, mit der Hoffnung, endlich neue Spuren zu entdecken. Durch Funde aus früherer Zeit ist bekannt, das Franklins Schiffe sich hier aufgehalten haben müssen. In der Nähe der King William Insel beginnt die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Heute hat das Polarmeer ein anderes Gesicht, als zu Franklins Zeiten. Durch den Klimawandel sind große Flächen im Sommer eisfrei.
Das kanadische Verteidigungsministerium stellt den Wissenschaftlern ein High-Tech Sonargerät zur Verfügung, das den Meeresboden abgrasen soll. Ursprünglich wurde der U-Boot-förmige, zwei Tonnen schwere Speer dafür gebaut, Minen aufzuspüren. Ferngesteuert soll er jetzt nach Franklins Schiffen fahnden. Es gilt, eine Fläche von rund 1.200 Quadratkilometern Meeresboden abzusuchen. Das Sonar tastet eine Fläche von 500 Metern ab. Wären Franklins Schiffe hier untergegangen, würde man sie mit dem hochauflösenden Sonar finden, denn jeder einzelne Pixel steht für 3mm Meeresboden. Doch sie finden nichts.
Eine zweite Suchmannschaft hofft auf Ergebnisse nahe einer Insel weiter südlich. Denn hier hinterließen Franklins Männer konkrete Hinweise auf den Verlauf der Expedition – auf einem Dokument, das erst 1859 in einem Steinmal gefunden wurde. Diese Notiz ist die einzige schriftliche Aufzeichnung. Es ist das wichtigste bisher gefundene Objekt. Ohne dieses kostbare Puzzleteil wüsste man so gut wie nichts über den Verlauf der Reise. Es wird heute im National Maritime Museum in London aufbewahrt. Es war in der Marine übliche Praxis, Notizen in dieser Art, mit einem standardisiertem Formular zu verfassen: Datum, Aufenthaltsort und eventuelle Ereignisse. Es wurde ausgefüllt und in wetterfesten Kupferröhren als Nachricht hinterlassen. Zweihundert dieser Röhren führte die Franklin Expedition mit sich.
Aus dieser Botschaft geht hervor, das die Expedition von der Beechey Insel aus über 600 Kilometer Richtung Süden segelt, bevor das Meer um sie herum komplett zufriert und sie ab September 1846 zu einem zweiten Winter im Eis zwingt. Dennoch endet die Notiz vom Mai 1847 mit den Worten “all well”, alles gut. Nur ein knappes Jahr später, wird die Schriftrolle aktualisiert – mit neuen, beunruhigenden Mitteilungen. Einem neuen Abschnitt zufolge standen die Dinge dann keineswegs mehr gut. Seltsam ist die Menge an Text, die auf die Ränder der Notiz gequetscht wurde. Das lässt vermuten, daß die Männer allmählich verwirrt waren. Sie berichten über völlig unbedeutende Dinge. Eher am Rande enthält die zweite Botschaft dann eine katastrophale Nachricht: Sir John Franklin ist tot. Gestorben am 11.Juni 1847.
Franklin starb mit 61 Jahren. War er doch zu alt für diese Tortur? Waren es die Folgen einer Bleivergiftung? Erfahren wird man es vermutlich nie. Es gibt keinen Hinweis auf die Todesursache.
Der Verlust des Kommandanten während einer Expedition verheißt nichts Gutes. Vor allem nicht, wenn sie mitten in einem Niemandsland, einer feindlichen Umgebung, gestrandet ist. Ein schwerer Schlag für Franklins Mannschaft – und es ist nicht die einzige Horror-Nachricht: auch fünfzehn Matrosen und neun Offiziere werden als tot gemeldet. Welche Dramen müssen sich abgespielt haben?
Aus dem zweiten Abschnitt der Notiz, geschrieben von den Kapitänen Crozier und Fitzjames, geht hervor, das viele Männer gestorben seien, darunter unverhältnismäßig viele Offiziere. Das ist seltsam, denn bis dahin waren bei Arktis-Expeditionen noch nie Offiziere ums Leben gekommen. Irgendetwas muß also gründlich schief gelaufen sein.
Der Nachtrag beschreibt, das der vorangegangene Sommer 1847 so kalt war, das die See nicht taute. Die Schiffe blieben also festgefroren an Ort und Stelle – für einen dritten Winter in der Stille des Eismeers, zum Nichtstun verdammt. Nur das Läuten der Schiffsglocken markiert in der ständigen Dämmerung der Polarregion die Tageszeiten.
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