Ein schockierender Bericht
“Aus den Verstümmelungen der Leichen ging hervor, daß Franklins Männer zu einem letzten Mittel gegriffen hatten: Kanibalismus.”
Zuhause in England ahnt zu dieser Zeit niemand, welche Tragödie sich im ewigen Eis abspielt. Es ist der Arktis-Forscher John Rae, der vom Schicksal der Franklin-Männer erfährt. 1854 erkundet er die Region um die King William Insel. Er trifft auf Inuit, die ihm von ihrer Begegnung erzählen – und einer grausamen Entdeckung. Raes späterer Bericht sollte ganz England schockieren. In der Times vom 23.Oktober 1854 findet sich der Bericht von John Rae, in all seinen schrecklichen Einzelheiten. Demnach berichteten ihm die Inuit, daß sie 30 Leichen entdeckt hatten – einige in einem Zelt, andere in einem umgedrehten Beiboot, unter dem die Männer Schutz gesucht hatten. Aus den Verstümmelungen der Leichen ging hervor, daß Franklins Männer zu einem letzten Mittel gegriffen hatten, um die eigene Existenz zu verlängern: Kannibalismus.
Teile von Schädeln und Knochen, zerlegte Gerippe, Finger, von denen das Fleisch entfernt wurde. Was John Rae berichtet, ist ganz und gar entsetzlich. Die schrecklichste aller Nachrichten ist nun bestätigt: offenbar hat keiner überlebt. Franklins Männer starben in einer Situation der Verzweiflung. Eine grauenvolle Wahrheit, mit der die viktorianische Gesellschaft konfrontiert wird. Denn “heldenhafte” Seefahrer essen einander nicht auf. Darum erfanden sie eine andere Geschichte. Der viktorianische Schriftsteller Charles Dickens drückte aus, was die Gesellschaft hören wollte: die Berichte der Inuit waren für ihn “nur das Gebrabbel einer handvoll ekelhafter Barbaren, die in Blut und Walfischfett zuhause sind”.
Doch die Inuit hatten recht. Forensische Studien aus Kanada und England, zuletzt 2015, bestätigen ihre Berichte. Ãœber 400 Knochen der Mannschaft wurden gefunden. Bei einem Viertel davon waren Schnittspuren zu sehen – für die Wissenschaftler ein Beweis, daß das Fleisch mit Stahlklingen von den Knochen geschnitten wurde. Es ist das grauenvollen Ende einer Expedition, die an einer fatalen Fehleinschätzung zu Grunde ging: dem Glauben an die Ãœberlegenheit des Europäers und seiner Technik über die Natur.
Um zu verstehen, wie es zu diesem Drama im ewigen Eis kam, könnte das Auffinden der Schiffe erheblich beitragen. Auch hier sind die Augenzeugenberichte der Inuit von hohem Wert: sie wollen beobachtet haben, daß nur eines der beiden Schiffe untergegangen war. Das andere wurde hundert Seemeilen weiter südlich gesichtet, wie es dort durch das Eis trieb. Inuit berichteten damals, daß ihnen ein solches Schiff an einer Stelle vor der Küste des kanadischen Festlands aufgefallen war – eine heiße Spur für die Forscher, die sich 2014 zur größten Suche nach Franklins Schiffen aufmacht.
Neben der bislang erfolglosen Fahndung einige hundert Kilometer nördlich erhoffen die Wissenschaftler sich hier endlich Erfolg. Die Gewässer sind flach. Der Einsatz eines Schlepp-Sonars erscheint ideal. Es sendet Schallwellen unterschiedlicher Frequenz ins Wasser aus und scannt bei laufender Fahrt einen 200 Meter breiten Streifen Meeresgrund unter dem Forschungsschiff. Unterstützt wird die Expedition auch von Hubschraubern der kanadischen Küstenwache.
In unmittelbarer Nähe jener Stelle, an der die Inuit Franklin gesehen haben wollen, finden die Forscher ein altes Metallstück, daß das Abzeichen der britischen Marine trägt. Ein weiterer Beweis für den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte. Die Forscher wissen nun, wo sie suchen müssen. Und tatsächlich: dort zeigt das Sonar eindeutig die Umrisse eines Schiffswracks.
Damit haben die Forscher einen unglaublichen Schatz voller Informationen gefunden, ein direktes Fenster in die Geschichte. Seit mehr als 160 Jahren hat man nach Franklins verschollenem Schiff gesucht. Viele Jahre der Suche, ein enormer technischer und finanzieller Aufwand, scheinen sich gelohnt zu haben. Das Wrack liegt fast zum Greifen nahe, lediglich elf Meter unter der Wasseroberfläche. Nun kommen Taucher zum Einsatz – und sehen mit eigenen Augen, wonach viele Suchexpeditionen mehr als eineinhalb Jahrhunderte lang gesucht haben. Das Jahr, in dem Franklin die Segel setzte, ist auf der Schiffsglocke eingeprägt: 1845.
Die Frage ist nun: handelt es sich um die HMS Terror oder um die Erebus? Und was verbirgt sich in seinem Inneren? Vielleicht Hinweise, die endlich erklären, warum so viele der Männer starben? Und warum der Rest der Mannschaft das Schiff verließ? Auf jeden Fall gibt dieser Fund dem Mythos von Franklins Expedition neue Nahrung. Für die Wissenschaft ist die Entdeckung des Wracks ein Jahrhundert-Fund. Weitere Untersuchungen und Vergleiche von 3D-Scans des Wracks mit den Schiffsplänen ergibt: es ist die HMS Erebus, Franklins 33 Meter langes Flaggschiff.
Ursprünglich nahm man an, beide Schiffe wurden vor der Küste der King William Insel zurückgelassen. Doch dieser Fund bestätigt die Aussagen der Inuit, daß eines der beiden Schiffe fast 200 Kilometer weiter nach Süden gelangte. Allerdings ist den Forschern noch nicht klar, wie das gefundene Schiff überhaupt an seinen Fundort kam. Möglicherweise ist die Erebus mit dem südwärts strömenden Eis dorthin gedriftet. Doch es gibt eine andere, weitaus plausiblere Erklärung: als das Schiff von den Inuit gesichtet wurde, war es offenbar bewohnt. Rauch sei aufgestiegen und eine Gangway habe an der Bordwand gestanden. Möglicherweise folgte nur ein Teil der Mannschaft ihrem Kapitän James Crozier und die anderen waren zum Schiff zurückgekehr.
Was sie dazu bewegt haben mag und wie sie in ihrer Lage überhaupt fähig waren, ein Schiff durch das Treibeis zu manövrieren, gehört zu den vielen offenen Fragen. Ironie des Schicksals: diese Männer hatten am Ende Franklins ehrgeiziges Ziel seiner Reise erreicht. Diese Männer, die letzten Überlebenden bevor die Flamme erlosch, haben tatsächlich das letzte Stück des Wegs durch die Nordwestpassage gefunden.
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