Aufbruch in eine unbekannte Welt. Das Ziel der britischen Expedition von 1845 ist ehrgeizig: es geht darum, einen Seeweg durch die Polarregion des amerikanischen Kontinents zu finden. Für Sir John Franklin, schon zu Lebzeiten eine Legende, würde ein Lebenstraum in Erfüllung gehen. Doch die Reise in die eisige Welt des Nordens sollte zum Albtraum werden – und zur größten Katastrophe der Polarforschung.
„Keiner von ihnen sollte jemals zurückkehren.“
Am 19.Mai 1845 stechen zwei Dreimaster von London aus in See. 134 Seemänner folgen dem Befehl der britischen Admiralität, endlich einen direkten Seeweg vom Nordatlantik in den Nordpazifik zu finden: der seit Jahrhunderten gesuchten Nordwestpassage. Der erfahrende Expeditionsleiter Sir John Franklin würde sich für alle Zeiten in den Geschichtsbüchern des Königreichs verewigen. Und vielleicht müßten nie wieder Schiffe um Südamerika, um das gefährliche Kap Horn segeln, um in den Pazifik zu gelangen.
Um viele tausend Kilometer kürzer wäre diese Route nördlich des amerikanischen Kontinents, dem heutigen Kanada. Von Westen wie von Osten war ein Teil der Nordwestpassage bereits kartographiert. Aber es fehlte ein entscheidender Abschnitt dazwischen.
Die zwei Dreimaster werden von je einem Kapitän geführt. Die HMS Terror leitet ein irischer Offizier mit Erfahrungen aus Reisen in die Arktis und Antarktis: Francis Crozier, 49. Und ein neuer Aufsteiger in der Royal Navy, James Fitzjames, 32, führt die HSM Erebus an. Sir John Franklin ist der Leiter der Expedition. Er ist eine Berühmtheit im viktorianischen England, bringt Erfahrung von drei früheren Forschungsreisen in die Arktis mit. Einmal wären er und seine Mannschaft beinahe verhungert. Er soll nur deshalb überlebt haben, weil er das Leder seiner Schuhe verzehrte. Seitdem gilt er als „der Mann, der seine Stiefel aß“, ein Haudegen der Navy.
Franklin war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer von zwei oder drei herausragenden Seefahrern und Kennern der Polarregion -zu Wasser und zu Land. Er war ein erstklassiger wissenschaftlicher Beobachter und Mitglied der Royal Society. Er hatte wissenschaftliche Kompetenz und sich bereits als Führungskraft bewährt.Allerdings: ein Vorbehalt galt seinem Alter. Er ging auf die Sechzig zu, war zudem etwas übergewichtig. Aber Märsche über Land waren eh nicht vorgesehen, das wusste er ebenso gut, wie die Admiralität. Es ging um das Kommandieren von Schiffen, das Befehligen von Männern und die Ãœberwachung von Forschungen. Und dafür gab es keinen besseren Mann. Franklin hatte eine lange und angesehene Karriere hinter sich. Sein Führungsstil lief nach dem Motto „Folgt mir!“ und nicht „Ich befehle euch!“.
Es ist die erste Garde britischer Seefahrer, die damals aufbricht. Doch keiner von ihnen sollte jemals zurückkehren.
12.Juli 1845. Fünf Männer, vermutlich krank, verlassen an der westlichen Küste Grönlands die Mannschaft. Zwei Wochen später wird Franklin’s Crew noch einmal von Walfängern gesehen – in den arktischen Gewässern der Baffin Bay. Danach verliert sich ihre Spur.
Nach den Maßstäben dieser Epoche sind Franklins Schiffe perfekt ausgestattet. Sie besitzen High Tech des 19. Jahrhunderts, wie Dampfantrieb und Zentralheizung. Ehemalige Kanonenboote, der Rumpf verstärkt mit Eichenholz und Eisenplatten. Die Mannschaft ist handverlesen, Freiwillige mit herausragender seemännischer Erfahrung. Keine Polarexpedition war jemals so verschwenderisch ausgestattet. Ihr Proviant ist für eine Fahrt von mehreren Jahren bemessen: fast 62 Tonnen Mehl, rund 8.000 Konservendosen mit Fleisch, Suppe und Gemüse, drei Tonnen Tabak, vier Tonnen Schokolade, über 4.200 Liter Zitronensaft gegen den gefürchteten Skorbut. Den Expeditionsteilnehmern sollte es auf der langen Reise, die auf mindestens zwei Jahre angelegt war, an nichts mangeln.
Zur Ausstattung gehörte auch eine Bibliothek mit fast 3.000 Büchern. Eine größere Kabine hatte nur Franklin, die er sich mit Tonnen von Kartoffeln teilte. Der unbeirrbare Glaube an die Überlegenheit der Technik lässt im 19. Jahrhundert keinen Zweifel am Erfolg der Expedition aufkommen.
In den ersten beiden Jahren war es für die britische Admiralität etwas beunruhigend, nichts von Franklin zu hören. Doch keine Nachrichten sind auch gute Nachrichten. Im Winter 1848 jedoch begann Lady Jane, Franklins Frau, sich Sorgen zu machen. Lady Jane war fast 20 Jahre mit John Franklin verheiratet, eine entschlossene, resolute Frau, die ihren Mann darin bestärkt hatte, das Kommando über die Expedition zu übernehmen. Nun fühlt sie sich verpflichtet und überzeugt die Londoner Admiralität, einen ersten Suchtrupp loszuschicken. Aus eigenem Vermögen unterstützt sie mehrere Expeditionen, die nach ihrem Mann suchen sollen.
Allmählich herrscht in den Admiralität Krisenstimmung. Die Expeditionen, die sie aussenden, bestehen erst aus zwei Schiffen und bald aus einem ganzen Geschwader. Es sollten noch einmal zwei Jahre vergehen, ehe in der unendlichen Eiswüste der Arktis erste Hinweise auftauchen. Eine Suchmannschaft findet auf der Beechey Insel Kleiderfetzen und Konservendosen. Die Reste eines Lagers. Und dann Gräber. Eindeutig Mitglieder von Franklins Mannschaft.
Woran waren sie gestorben? 1984 wollen Wissenschaftler dies herausfinden und machen eine sensationelle Entdeckung: der Permafrost hat die Leichen fast vollständig erhalten. Drei Männer im Alter zwischen 20 und 33 Jahren. In ihren Haaren und im Gewebe werden extreme Bleiwerte festgestellt. Die Wissenschaftler nehmen an, daß wahrscheinlich die 8.000 Konserven, die Franklin im Gepäck hatte, dafür verantwortlich waren. Mitte des 19. Jahrhunderts war diese Technik noch nicht ausgereift und führte vermutlich zu einer allmählichen Vergiftung der Mannschaft. Denn ihre Verpflegung befand sich in Zinndosen, die von innen mit einer Lötmasse aus Blei abgedichtet waren. Eine Bleivergiftung führt zu geistiger Verwirrtheit und ist nicht tödlich, wenn es nicht in genügender Menge im Körper angereichert wird. Zudem führt eine Bleivergiftung zu einer Schwächung des Immunsystems. Der Körper ist dadurch angreifbarer.Wahrscheinlich sind die Männer letztendlich an einer Tuberkolose gestorben, denn die Lungen der drei Leichen waren vollständig zerstört, wie die Untersuchungen 1984 zeigten. Es handelte sich offenbar um einen sehr aggressiven Stamm des Erregers. In Holzschiffen herrschte eine feuchtwarme Atmosphäre. Das sind beste Bedingungen für die Ausbreitung des Bakteriums. Doch vieles bleibt Spekulation – auch weil Franklin keine weiteren Hinweise hinterließ. Die Inschriften auf den Gräbern verraten lediglich, das die drei Männer zwischen Januar und Anfang April 1846 dort beerdigt wurden. Das legt nahe, das Franklins Crew unweit dieser Stelle überwintert hat.
Als im Frühjahr 1846 die neue Segelsaison beginnt, fahren die Schiffe weiter. Richtung Südwesten, wie man heute weiß. Dort vermutete Franklin eine eisfreie Durchfahrt – eine fatale Fehleinschätzung, denn diese Route führt ihn direkt in einen dicken Eisstrom.
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170 Jahre später
„War er doch zu alt für diese Tortur?“
2014. Nach fast 170 Jahren sollen die Rätsel um Franklins Schicksal endlich gelöst werden. Taucher, Unterwasser-Archäologen, Sonar-Experten – mehrere Wissenschaftliche Institutionen sind beteiligt. Es ist die größte von sechs Suchexpeditionen unter Leitung der kanadischen Regierung. Für die Leiter der Expedition ist der Aufwand gerechtfertigt, geht es doch um das größte Geheimnis in der Geschichte der Entdeckungsreisen. Könnte man das Rätsel der Franklin-Expedition endlich aufklären, ginge für viele der beteiligten Wissenschaftler ein Lebenstraum in Erfüllung.
Die Expedition hofft, mindestens eines von Franklins Schiffen zu orten. Eineinhalb Jahrhunderte lang hatten unzählige Suchmannschaften nach Überresten der Franklin Expedition gefahndet. Mit zwei Eisbrechern, mehreren leichteren Schiffen und hochmoderner Technik ist dies die aufwendigste Suche, die jemals unternommen wurde, um die beiden verschollenen Schiffe zu finden.
Das Problem: es gibt nur wenige Informationen über Franklins Route ins Polarmeer.
Von der britischen Admiralität in London erhielt Franklin seinen Auftrag. 1845 segelt Franklin nach Norden. Er kann sich ausschliesslich an Seekarten orientieren, denn einige Gebiete der Arktis sind bereits befahren worden und bekannt. Aber Franklin hat eindeutige Instruktionen: er soll über die Grenzen der bekannten Welt hinaus segeln. Dorthin, wo noch ein verlockender, weißer Fleck auf der Landkarte ist. Ihre Seekarten waren also nur ein Teil dessen, woran sie sich orientieren konnten.
Das Polarmeer ist kein großer, offener Ozean. Hier gibt es unzählige, kleine Inseln. Und in diesem eisigen Labyrinth verschwand Franklin. Genau dorthin wagt sich die Expedition des Jahres 2014, mit der Hoffnung, endlich neue Spuren zu entdecken. Durch Funde aus früherer Zeit ist bekannt, das Franklins Schiffe sich hier aufgehalten haben müssen. In der Nähe der King William Insel beginnt die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Heute hat das Polarmeer ein anderes Gesicht, als zu Franklins Zeiten. Durch den Klimawandel sind große Flächen im Sommer eisfrei.
Das kanadische Verteidigungsministerium stellt den Wissenschaftlern ein High-Tech Sonargerät zur Verfügung, das den Meeresboden abgrasen soll. Ursprünglich wurde der U-Boot-förmige, zwei Tonnen schwere Speer dafür gebaut, Minen aufzuspüren. Ferngesteuert soll er jetzt nach Franklins Schiffen fahnden. Es gilt, eine Fläche von rund 1.200 Quadratkilometern Meeresboden abzusuchen. Das Sonar tastet eine Fläche von 500 Metern ab. Wären Franklins Schiffe hier untergegangen, würde man sie mit dem hochauflösenden Sonar finden, denn jeder einzelne Pixel steht für 3mm Meeresboden. Doch sie finden nichts.
Eine zweite Suchmannschaft hofft auf Ergebnisse nahe einer Insel weiter südlich. Denn hier hinterließen Franklins Männer konkrete Hinweise auf den Verlauf der Expedition – auf einem Dokument, das erst 1859 in einem Steinmal gefunden wurde. Diese Notiz ist die einzige schriftliche Aufzeichnung. Es ist das wichtigste bisher gefundene Objekt. Ohne dieses kostbare Puzzleteil wüsste man so gut wie nichts über den Verlauf der Reise. Es wird heute im National Maritime Museum in London aufbewahrt. Es war in der Marine übliche Praxis, Notizen in dieser Art, mit einem standardisiertem Formular zu verfassen: Datum, Aufenthaltsort und eventuelle Ereignisse. Es wurde ausgefüllt und in wetterfesten Kupferröhren als Nachricht hinterlassen. Zweihundert dieser Röhren führte die Franklin Expedition mit sich.
Aus dieser Botschaft geht hervor, das die Expedition von der Beechey Insel aus über 600 Kilometer Richtung Süden segelt, bevor das Meer um sie herum komplett zufriert und sie ab September 1846 zu einem zweiten Winter im Eis zwingt. Dennoch endet die Notiz vom Mai 1847 mit den Worten „all well“, alles gut. Nur ein knappes Jahr später, wird die Schriftrolle aktualisiert – mit neuen, beunruhigenden Mitteilungen. Einem neuen Abschnitt zufolge standen die Dinge dann keineswegs mehr gut. Seltsam ist die Menge an Text, die auf die Ränder der Notiz gequetscht wurde. Das lässt vermuten, daß die Männer allmählich verwirrt waren. Sie berichten über völlig unbedeutende Dinge. Eher am Rande enthält die zweite Botschaft dann eine katastrophale Nachricht: Sir John Franklin ist tot. Gestorben am 11.Juni 1847.
Franklin starb mit 61 Jahren. War er doch zu alt für diese Tortur? Waren es die Folgen einer Bleivergiftung? Erfahren wird man es vermutlich nie. Es gibt keinen Hinweis auf die Todesursache.
Der Verlust des Kommandanten während einer Expedition verheißt nichts Gutes. Vor allem nicht, wenn sie mitten in einem Niemandsland, einer feindlichen Umgebung, gestrandet ist. Ein schwerer Schlag für Franklins Mannschaft – und es ist nicht die einzige Horror-Nachricht: auch fünfzehn Matrosen und neun Offiziere werden als tot gemeldet. Welche Dramen müssen sich abgespielt haben?
Aus dem zweiten Abschnitt der Notiz, geschrieben von den Kapitänen Crozier und Fitzjames, geht hervor, das viele Männer gestorben seien, darunter unverhältnismäßig viele Offiziere. Das ist seltsam, denn bis dahin waren bei Arktis-Expeditionen noch nie Offiziere ums Leben gekommen. Irgendetwas muß also gründlich schief gelaufen sein.
Der Nachtrag beschreibt, das der vorangegangene Sommer 1847 so kalt war, das die See nicht taute. Die Schiffe blieben also festgefroren an Ort und Stelle – für einen dritten Winter in der Stille des Eismeers, zum Nichtstun verdammt. Nur das Läuten der Schiffsglocken markiert in der ständigen Dämmerung der Polarregion die Tageszeiten.
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Marsch ins Ungewisse
„Der nächste Außenposten der Zivilisation ist rund 1.500 Kilometer entfernt.“
Kapitän Francis Crozier hat jetzt das Kommando übernommen. Er gilt als erfahrener Seeman, der bereits an einigen Arktis-Expeditionen teilgenommen hatte, doch geleitet hatte er sie noch nie. Wie aus einer weiteren Notiz hervorgeht, trifft er eine folgenschwere Entscheidung. Am 22.April 1848 ordnet Corzier an, die Schiffe zu verlassen, mit 105 Überlebenden der Mannschaft, zu Fuß Richtung Süden. Der nächste Außenposten der Zivilisation ist rund 1.500 Kilometer entfernt.
Die spärlichen Notizen, die die Mannschaft hinterließ, lassen viel zu viele Fragen offen: woran sind die Männer gestorben? Wo sind die Logbücher des Schiffs? Die Angaben über die Mannschaft? Wo sind all die privaten Briefe in die Heimat, die sie in den langen Wintern bestimmt geschrieben haben? Was hat sie dazu gebracht, die Sicherheit ihrer Schiffe zu verlassen und sie aufzugeben? Gingen sie von Bord, weil sie alle krank waren? Sie konnten noch nicht alle Vorräte aufgebraucht haben – oder doch? Heutige Forscher stehen vor all diesen Rätseln. Und jedesmal, wenn sie einen neuen Hinweis finden, wir es nur noch rätselhafter.
Ohne die Schiffe sind sie den Gewalten der Natur schutzlos ausgeliefert. Wenn sie Halt machen, sterben sie. Immer wieder raffen sie sich auf, um weiter zu marschieren, Richtung Süden. Die Beiboote ziehen sie hinter sich her.
Im Süden der King William Insel, eine der abgelegendsten Gemeinden Kanadas, leben zu jener Zeit einige wenige Inuit. Als Franklins verlorene Mannschaft in der Nähe vorbei zieht, fällt ihnen der Treck verzweifelter Männer auf. Ihren Nachfahren überliefern sie Geschichten von zerlumpten, heruntergekommenen Gestalten, die sich durch das Eis schleppten. Die Suchmannschaften des 19. Jahrhunderts nehmen diese Augenzeugenberichte jedoch nicht ernst -ein Fehler. Mündlich überlieferte Geschichte ist die Wissenschaft der Inuit. Durch ihre Geschichten erfahren sie, wo sie Nahrung finden oder welche Eisbedingungen im Frühjahr herrschen. Diese mündlichen Überlieferungen mussten also sehr, sehr genau sein. Wenn nicht, konnte das den Tod bedeuten.
Die Inuit-Jäger erzählen sogar von einem direkten Zusammentreffen mit einigen Ãœberlebenden von Franklins Mannschaft. Einer der Männer sei hervor getreten und habe ihnen das Inuit-Wort für „Freund“ zugerufen. Vermutlich war es Kapitän Crozier. Durch einige seiner früheren Arktis-Reisen hatte er einige Worte der Eskimosprache Inuktitut gelernt. Er fleht sie um Nahrung für sich und seine Männer an. Doch mehr als einige Stücke Seehundfleisch können die Inuit ihnen nicht geben. Sie hungern selbst.
Franklins Männer marschieren weiter und schleppen ihre viel zu schweren Beiboote mit, die für diesen Zweck völlig ungeeignet sind – niemand hatte eingeplant, daß sich die Mannschaft über Land retten muss. Je weiter sie von ihren Schiffen entfernt waren, desto mehr leblose Körper wurden später gefunden. Am Strand, in Lagern, überall. Ein Martyrium, bei Temperaturen um die 50 Grad unter Null.
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Ein schockierender Bericht
„Aus den Verstümmelungen der Leichen ging hervor, daß Franklins Männer zu einem letzten Mittel gegriffen hatten: Kanibalismus.“
Zuhause in England ahnt zu dieser Zeit niemand, welche Tragödie sich im ewigen Eis abspielt. Es ist der Arktis-Forscher John Rae, der vom Schicksal der Franklin-Männer erfährt. 1854 erkundet er die Region um die King William Insel. Er trifft auf Inuit, die ihm von ihrer Begegnung erzählen – und einer grausamen Entdeckung. Raes späterer Bericht sollte ganz England schockieren. In der Times vom 23.Oktober 1854 findet sich der Bericht von John Rae, in all seinen schrecklichen Einzelheiten. Demnach berichteten ihm die Inuit, daß sie 30 Leichen entdeckt hatten – einige in einem Zelt, andere in einem umgedrehten Beiboot, unter dem die Männer Schutz gesucht hatten. Aus den Verstümmelungen der Leichen ging hervor, daß Franklins Männer zu einem letzten Mittel gegriffen hatten, um die eigene Existenz zu verlängern: Kannibalismus.
Teile von Schädeln und Knochen, zerlegte Gerippe, Finger, von denen das Fleisch entfernt wurde. Was John Rae berichtet, ist ganz und gar entsetzlich. Die schrecklichste aller Nachrichten ist nun bestätigt: offenbar hat keiner überlebt. Franklins Männer starben in einer Situation der Verzweiflung. Eine grauenvolle Wahrheit, mit der die viktorianische Gesellschaft konfrontiert wird. Denn „heldenhafte“ Seefahrer essen einander nicht auf. Darum erfanden sie eine andere Geschichte. Der viktorianische Schriftsteller Charles Dickens drückte aus, was die Gesellschaft hören wollte: die Berichte der Inuit waren für ihn „nur das Gebrabbel einer handvoll ekelhafter Barbaren, die in Blut und Walfischfett zuhause sind“.
Doch die Inuit hatten recht. Forensische Studien aus Kanada und England, zuletzt 2015, bestätigen ihre Berichte. Ãœber 400 Knochen der Mannschaft wurden gefunden. Bei einem Viertel davon waren Schnittspuren zu sehen – für die Wissenschaftler ein Beweis, daß das Fleisch mit Stahlklingen von den Knochen geschnitten wurde. Es ist das grauenvollen Ende einer Expedition, die an einer fatalen Fehleinschätzung zu Grunde ging: dem Glauben an die Ãœberlegenheit des Europäers und seiner Technik über die Natur.
Um zu verstehen, wie es zu diesem Drama im ewigen Eis kam, könnte das Auffinden der Schiffe erheblich beitragen. Auch hier sind die Augenzeugenberichte der Inuit von hohem Wert: sie wollen beobachtet haben, daß nur eines der beiden Schiffe untergegangen war. Das andere wurde hundert Seemeilen weiter südlich gesichtet, wie es dort durch das Eis trieb. Inuit berichteten damals, daß ihnen ein solches Schiff an einer Stelle vor der Küste des kanadischen Festlands aufgefallen war – eine heiße Spur für die Forscher, die sich 2014 zur größten Suche nach Franklins Schiffen aufmacht.
Neben der bislang erfolglosen Fahndung einige hundert Kilometer nördlich erhoffen die Wissenschaftler sich hier endlich Erfolg. Die Gewässer sind flach. Der Einsatz eines Schlepp-Sonars erscheint ideal. Es sendet Schallwellen unterschiedlicher Frequenz ins Wasser aus und scannt bei laufender Fahrt einen 200 Meter breiten Streifen Meeresgrund unter dem Forschungsschiff. Unterstützt wird die Expedition auch von Hubschraubern der kanadischen Küstenwache.
In unmittelbarer Nähe jener Stelle, an der die Inuit Franklin gesehen haben wollen, finden die Forscher ein altes Metallstück, daß das Abzeichen der britischen Marine trägt. Ein weiterer Beweis für den Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte. Die Forscher wissen nun, wo sie suchen müssen. Und tatsächlich: dort zeigt das Sonar eindeutig die Umrisse eines Schiffswracks.
Damit haben die Forscher einen unglaublichen Schatz voller Informationen gefunden, ein direktes Fenster in die Geschichte. Seit mehr als 160 Jahren hat man nach Franklins verschollenem Schiff gesucht. Viele Jahre der Suche, ein enormer technischer und finanzieller Aufwand, scheinen sich gelohnt zu haben. Das Wrack liegt fast zum Greifen nahe, lediglich elf Meter unter der Wasseroberfläche. Nun kommen Taucher zum Einsatz – und sehen mit eigenen Augen, wonach viele Suchexpeditionen mehr als eineinhalb Jahrhunderte lang gesucht haben. Das Jahr, in dem Franklin die Segel setzte, ist auf der Schiffsglocke eingeprägt: 1845.
Die Frage ist nun: handelt es sich um die HMS Terror oder um die Erebus? Und was verbirgt sich in seinem Inneren? Vielleicht Hinweise, die endlich erklären, warum so viele der Männer starben? Und warum der Rest der Mannschaft das Schiff verließ? Auf jeden Fall gibt dieser Fund dem Mythos von Franklins Expedition neue Nahrung. Für die Wissenschaft ist die Entdeckung des Wracks ein Jahrhundert-Fund. Weitere Untersuchungen und Vergleiche von 3D-Scans des Wracks mit den Schiffsplänen ergibt: es ist die HMS Erebus, Franklins 33 Meter langes Flaggschiff.
Ursprünglich nahm man an, beide Schiffe wurden vor der Küste der King William Insel zurückgelassen. Doch dieser Fund bestätigt die Aussagen der Inuit, daß eines der beiden Schiffe fast 200 Kilometer weiter nach Süden gelangte. Allerdings ist den Forschern noch nicht klar, wie das gefundene Schiff überhaupt an seinen Fundort kam. Möglicherweise ist die Erebus mit dem südwärts strömenden Eis dorthin gedriftet. Doch es gibt eine andere, weitaus plausiblere Erklärung: als das Schiff von den Inuit gesichtet wurde, war es offenbar bewohnt. Rauch sei aufgestiegen und eine Gangway habe an der Bordwand gestanden. Möglicherweise folgte nur ein Teil der Mannschaft ihrem Kapitän James Crozier und die anderen waren zum Schiff zurückgekehr.
Was sie dazu bewegt haben mag und wie sie in ihrer Lage überhaupt fähig waren, ein Schiff durch das Treibeis zu manövrieren, gehört zu den vielen offenen Fragen. Ironie des Schicksals: diese Männer hatten am Ende Franklins ehrgeiziges Ziel seiner Reise erreicht. Diese Männer, die letzten Überlebenden bevor die Flamme erlosch, haben tatsächlich das letzte Stück des Wegs durch die Nordwestpassage gefunden.
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