Ukraine-Krieg

Warum ist Russlands Armee so schwach?

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Monate nach Kriegsbeginn halten manche es noch für wahrscheinlich, daß Russland durch seine Masse und Überlegenheit an schwerem Gerät vielleicht als Sieger aus diesem Konflikt hervorgehen wird. Die Anzahl dieser Menschen ist mittlerweile allerdings deutlich geringer geworden, als sie noch im Februar 2022 war, als Russland mit langen Konvois in die Ukraine einmarschierte.

Mittlerweile ist selbst eingefleischten Ostblock-Fans klar: die russische Armee ist nicht, wie vormals gerne angepriesen, die zweitgrößte der Welt – sondern aktuell nur noch die zweitgrößte Armee in der Ukraine.

Tatsächlich war die russische „Performance“ in diesem Angriffskrieg bisher sehr niedrig bis unterirdisch schlecht, gemessen am Standard moderner Kriegsführung. Schon nach wenigen Kriegstagen verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken in rasanter Geschwindigkeit Videos, die liegengebliebene Militärfahrzeuge und Pan­zer zeigten, denen der Sprit ausgegangen war, oder die im Matsch steckengeblieben waren. Hungrige Einheiten plünderten Lebensmittelgeschäfte. Man sah offenbar bis zur letzten Sekunde über ihren Einsatz im Unklaren gelassene, weinende Soldaten, die nach Hause wollten.

Aber warum hat die russische Armee so katastrophal schlecht abgeschnitten gegen ein relativ schwaches Land wie die Ukraine? Ein kritischer Blick auf den Zustand der russischen Armee.

Nachschublogistik

„Die russische Armee setzt massiv auf Artillerie.“

Die russische Militärdoktrin basiert, was den Nachschub der Streitkräfte angeht, massiv auf dem Eisenbahnnetz. Das heißt, der weitaus größte Teil des Nachschubs für die Truppen wird per Zug an die Front gebracht. Diese Doktrin entstand aus der puren Größe des Landes, das so groß ist, daß die Eisenbahn einfach die wirtschaftlichste und effizienteste Art ist, große Mengen an Gütern über weite Strecken hinweg zu bewegen. Dies verringert zudem die Anzahl der benötigten motorisierten Fahrzeuge deutlich. Der Nachteil ist allerdings, daß es mit steigender Entfernung zum Schienennetz immer schwieriger wird, den Nachschub direkt zu den Truppen zu bringen. Der Transport via Eisenbahn ist zudem sehr langsam, während der motorisierte Teil der Armee sich deutlich schneller vorwärts bewegen kann. Je schneller sich die motorisierte Armee nach vorne bewegt und je weiter sie sich dabei vom Eisenbahnnetz entfernt, desto größer werden schließlich die Nachschubprobleme.

Verstärkt wird dieses Problem noch durch die Tatsache, daß die russische Armee zahlenmäßig massiv auf Artillerie setzt und diese eine enorme Menge an Munitionsnachschub benötigt. Einen einzigen Mehrfach-Raketenwerfer nachzuladen erfordert quasi schon eine gesamte LKW-Ladung an Rakten, was bedeutet, daß dieses Fahrzeug weder medizinische Güter, noch Treibstoff oder Munition für die Infanterie transportieren kann.

Russland hat hier insofern Glück, da die Ukraine über eines der dichtesten Eisenbahnnetze in Europa verfügt – dies kommt nicht nur den ukrainischen Truppen zugute, wenn es darum geht, westliche Waffen quer durch die Ukraine bis an die Front zu schicken, sondern auch den russischen Truppen, sobald diese ukrainische Gebiete eingenommen haben.

Da die russische Militärdoktrin seit dem Zweiten Weltkrieg so stark auf die Eisenbahn setzt, verfügt sie über spezielle Instandsetzungstruppen, deren alleinige Aufgabe es ist, die Schienentransporte sicherzustellen und das Schienennetz ggf. zu reparieren. Aus diesem Grund ist den Russen vor allem daran gelegen, strategisch wichtige Eisenbahnknotenpunkte einzunehmen, um so den eigenen Nachschub zu sichern.

Doch diese Nachschubdoktrin macht die russische Armee auch extrem vulnerabel, wenn der Gegner über Mittel verfügt, die angelegten Treibstoff- und Munitionsdepots entlang der Schiene – oder sogar das Schienennetz im Hinterland selbst – zu zerstören. Fast jeden Tag entgleisen in Russland Züge. Der Insider, ein oppositionelles russisches Portal, berichtet von 63 Güterzügen, die von März bis Juni 2022 aus den Gleisen gesprungen seien. Seit Ende Februar, so der Insider, gab es in Russland außerdem mindestens 23 Angriffe auf militärische Registrierungs- und Rekrutierungsbüros, 20 davon waren Brandanschläge.

Seit dem russischen Ãœberfall auf die Ukraine ist die Zahl solcher Vorkommnisse sprunghaft angestiegen. Auch Wehrbüros werden zunehmend Ziel von Brandstiftungen. Dies schreibt die „Kampfgruppe Anarcho-Kommunisten“ (Boak) auf ihrem Telegram-Kanal, die auch für diese Anschläge die Verantwortung übernimmt. Besonders stolz scheint man bei den Anarcho-Kommunisten über eine Sabotageaktion an den Gleisen Richtung Barsowo zu sein, befindet sich doch in Barsowo ein Waffenlager für Artillerie und Raketenmunition. 34 Schrauben habe man in diesen Gleisen lockern können, so die Gruppe. „Je mehr Züge gestoppt werden, desto weniger Granaten fliegen auf friedliche ukrainische Städte“, schreibt Boak auf ihrem Telegram-Kanal.

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Foto: Spiegel

Selbstüberschätzung

In einer Diktatur ist das eigene Vorankommen gänzlich von der Loyalität zum und dem Wohlwollen des Alphamännchens abhängig. Wer wäre dann so blöd, seinem Vorgesetzten die Wahrheit zu sagen – nämlich, dass die eigene Armee, die man seit 20 Jahren mit enormen Summen hochpäppelt, im Grunde alles aufbieten müsste, um den schwächlich wirkenden Feind besiegen zu können? Das ist nicht, was die kriegsgeile Führung hören möchte. Viel einfacher ist es doch stattdessen, den Vorgesetzten genau das zu erzählen, was sie gerne hören würden – und sogar noch ein paar Geisterbatallione dazu zu erfinden, deren Sold man dann in die eigene Tasche stecken kann.

Das während des Krieges in den letzten Monaten Dutzende russische Generäle – sofern sie denn das Glück hatten, nicht im Kampf getötet worden zu sein – von Putin gefeuert wurden, unterstreicht die Tatsache, dass die Führung im Kreml nicht an Tatsachen interessiert ist, sondern lieber weiterhin daran glaubt, dass man die beste Armee der Welt unterhält, wenn da nicht nur diese unfähigen Generäle wären, deren alleinige Schuld es ist, dass die Ukraine immer noch nicht eingenommen ist.

Auf der nächsten Seite: Soldaten als Mangelware.

Mangel an Soldaten

„Ein schlecht ausgebildeter Soldat taugt höchstens als Kanonenfutter.“

Angriff ist schwieriger, als Verteidigung. Diese Weisheit kennt jede Armee der Welt – nur die russische nicht. Dort scheint man vergessen zu haben, dass der Angreifer dem Verteidiger in der Regel mit einem Verhältnis von 3:1 überlegen sein muss, um genug Druck gegen die Stellung des Gegners ausüben zu können. Was das angeht, kann die Ukraine auf über 1000.000.000 Soldaten zurückgreifen – eine der größten Armeen der Welt! Tatsächlich handelt es sich hier zum größten Teil nicht um gut ausgebildete Soldaten, sondern meist um eingezogene Zivilisten, denen man nur eine kurze Ausbildung zuteil kommen liess – aber verteidigen ist nun mal weniger anspruchsvoll, als einen Angriff auszuführen.

Mittlerweile erhalten sogar tausende ehemalige ukrainische Zivilisten, die sich freiwillig den Streitkräften angeschlossen haben oder einberufen worden sind, eine solide, mehrwöchige Militärausbildung nach NATO-Standards in den Niederlanden, Polen, UK, Deutschland und weiteren NATO-Staaten, während den Russen die Soldaten knapp werden. Während die ukrainischen Soldaten also eine immer bessere Ausbildung erhalten und deren Zahl weiter wächst, werden in Russland, wo man ja tunlichst eine Generalmobilmachung vermeiden möchte, die Soldaten knapp.

Nun ködert man in Russland junge Männer mit irrwitzig hohem Sold (der erst ausbezahlt wird, wenn man den Spaß auch ein halbes Jahr überlebt) und spendiert ihnen nur eine Ausbildung von wenigen Tagen! Ein derart schlecht ausgebildeter Soldat taugt höchstens als Kanonenfutter für die Front und hat sonst keinerlei Nutzen für seine Armee. Eine Ausbildung zum Artilleristen dauert nicht umsonst Monate – denn zielen kann hier nur, wer Formeln kennt und ballistische Flugbahnen berechnen kann. Aber selbst diese, seit dem Zweiten Weltkrieg gepflegten Traditionen, scheinen dem russischen Kommando mittlerweile egal – Hauptsache, man bekommt genug Fleisch an die Front, um irgendwie Meter für Meter zu gewinnen – unter unglaublich hohen Verlusten.

Eine Generalmobilmachung möchte man in Russland vermeiden, denn dort soll bitte nichts an „Krieg“ erinnern. Während der Bevölkerung vorgelogen wird, es handele sich nur um eine „militärische Spezialoperation“ und nicht um einen handfesten Krieg mit mittlerweile an die 50.000 russischen Verlusten, rekrutiert man fleißig am Rande Russlands in den armen Minderheiten, die sowieso schon kaum Rechte hatten, verglichen mit den Klasse A Russen in Moskau und anderen Großstädten. Und genau diese Klasse-A Russen, in Russland „Grossrussen“ oder „Zentralrussen“ genannt, werden die letzten sein, die jemals in einen Krieg einberufen werden. Vorher verheizt man lieber seine Minderheiten, jene Ethnien, die sich zwar „Russen“ nennen dürfen, es aber im Grunde nie wirklich waren.

Die Anzahl der gut ausgebildeten Soldaten schwankt auf russischer Seite extrem und reicht von tschetschenischen „TikTok-Kämpfern“, die ihren Spitznamen erhalten haben, weil sie sich gerne vor Kämpfen drücken und stattdessen lieber mit ihren Waffen vor Handykameras posieren, bis hin zu Söldnern der Wagner-Gruppe mit mehrjähriger Kampferfahrung. Doch die Anzahl der besser ausgebildeten Soldaten auf russischer Seite – die schon seit Beginn des Krieges nicht besonders hoch war – sinkt mit Dauer der Kämpfe extrem und fällt momentan fast schon ins Bodenlose. Spätestens mit dem Beschuss des Wagner-Hauptquartiers in Popasna wurde ein bedeutender Teil der Söldnergruppe mit einem Schlag ausgelöscht, selbst der Administrator der Wagner-Telegram-Gruppe soll diesen Angriff nicht überlebt haben, die seitdem quasi nicht mehr „sendet“. In letzter Zeit rekrutierte man in Russland sogar Mörder und Vergewaltiger aus Gefängnissen, um sie als Ersatz für gefallene Soldaten an die Front zu schicken. Das zeigt, wie knapp Russlands menschliche Ressourcen auf dem Schlachtfeld sind – wer möchte da noch den Luxus einer Kampfausbildung voraussetzen?

Einmal „Krieg Light“, bitte!

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Foto: Spiegel

Bei einer Generalmobilmachung könnte man in Russland immerhin auf mehrere Millionen Soldaten zurückgreifen – die dann aber noch nicht einmal vernünftig ausgestattet wären. Schon jetzt wurden viele russische Soldaten in der Ukraine gefangen genommen, deren Uniform aus völlig zusammengewürfelten Stücken bestand. Ende Februar klagten viele russische Soldaten in abgehörten Telefonanrufen nach Hause über Frostbeulen und bewunderten die vorbildlichen Medipacks der ukrainischen Soldaten, währen sie selbst noch nicht einmal Tourniquets (Aderpressen zum Abbinden von Arterien) hatten.

Wenn Russland es noch nicht einmal schafft, diese Soldaten ordentlich auszurüsten, wie stünde es dann bei einer Generalmobilmachung? Und in welche Panzer sollte man diese Männer dann setzen, wenn dank der Sanktionen jetzt schon kaum noch neue vom Band laufen und bereits uralte T-62 Panzer von der Schrotthalde geholt werden? Es fehlen dringend westliches Know-How, Ersatzteile, Herstellungs- und Halbleitertechnik. Schon vor den Sanktionen war das russische Militär immer noch stark veraltet und durch den Ukraine-Krieg mittlerweile stark ausgeblutet, bei einer Generalmobilmachung könnte man den Soldaten eigentlich nur noch Mosin-Nagant-Repetiergewehre in die Hand drücken, die noch zur Zarenzeit konstruiert wurden und bereits in den Händen zwangsrekrutierter russischer Kämpfer in der Donetsk-Region gesehen wurden. Von abhörsicheren, digitalen Funkgeräten könnte man dann nur träumen und müsste, wie es momentan oft der Fall ist, auf die unsichere Kommunikation via Handy zurückgreifen.

Da der Krieg in der Ukraine aus russischer Sicht gar kein „echter“ Krieg ist, gibt es, rechtlich gesehen, auch keine Deserteure. Wer keine Lust mehr hat, zu sterben oder sich nicht verstümmeln lassen möchte, kann einfach den Dienst quittieren und nach Hause gehen. Fahnenflucht an sich gibt es nicht, da man sich ja nur für eine „Spezialoperation“ verpflichtet hat. Offiziell zumindest. Aber: wer den Dienst vorzeitig quittiert, bekommt keinen Sold und kein Entlassungsgeld ausgezahlt. Zudem wird auf die Soldaten starker psychologischer Druck ausgeübt. Das geht bis hin zu Drohungen („Dir könnte auf dem Weg nach Hause etwas passieren“) oder der Bedrohung von Familienmitgliedern. Tatsächlich wird von vielen Soldaten berichtet, die ihren Dienst quittieren wollten und danach plötzlich spurlos verschwanden oder kurz darauf als „gefallen“ gemeldet wurden.

Nicht wenige russische Soldaten versuchen deshalb, durch das Ausstellen eines ärztlichen Attests gegen hohe Bestechungsgelder, ihren Dienst zu quittieren. Andere stecken das eigene Fahrzeug in Brand oder schießen sich in das eigene Bein, um von der Front weg zu kommen. Aber selbst das klappt nur in den wenigsten Fällen, denn russisch besetzte Krankenhäuser und Lazarette verweigern Soldaten, die nicht lebensgefährlich verletzt sind, in vielen Fällen die Behandlung – die Soldaten werden einfach zurück an die Front geschickt.

Auf der nächsten Seite: Mangel an moderner Munition.

Mangel an moderner Munition

„Selbst diese Taktik der Russen geht mittlerweile nicht mehr auf.“

Schon vor Wochen sind den Russen die „intelligenten“, also lenkfähigen Gefechtsköpfe ausgegangen – ein Grund, warum statt präzisem Feuer auf ausgewählte Ziele, wie die Ukraine es derzeit mit vom Westen gestellten HIMARS-Mehrfachraketenwerfern vormacht, auf russischer Seite quasi nur mit einer Walze aus „blindem“ Artilleriefeuer vorangegangen wird. Der Grund dafür ist nicht etwa, die Zivilbevölkerung zu verunsichern, nein, der Russe kann nicht anders! Intelligente Gefechtsköpfe sind mittlerweile Mangelware, es steht nur noch ungelenkte Artillerie zur Verfügung, diese dafür aber massenhaft. Dumm nur, wenn man dann aber schlecht ausgebildete Soldaten im Feld hat, die noch nicht einmal gelernt haben, eine Artilleriegranate auch nur ansatzweise ins Ziel zu bringen. Das Resultat sind unglaublich hohe Verluste auf Seiten der Russen, aber ebenso hohe Verluste auf Seiten der ukrainischen Zivilbevölkerung, deren Häuser man so in einer Feuerwalze zu Schutt und Asche bombt, ohne dabei irgendwelche tatsächlichen militärischen Ziele zu zerstören.

Und selbst diese Taktik der Russen geht mittlerweile nicht mehr auf – denn seitdem die Ukraine über zielgenaue HIMARS verfügt (der M31 Lenkflugkörper verfügt beispielsweise über eine Zielgenauigkeit von 2-3 Metern nach einem Flug von über 80 Kilometern) gelingt es den Ukrainern fast täglich, ein russisches Waffendepot nach dem anderen zu zerstören – ganz ohne Feuerwalze, Kollateralschäden oder verwundeten eigenen Soldaten. Einfach nur, weil sie über moderne, zielgenaue Munition verfügt. Ein Schuss – ein Volltreffer, statt blinder Zerstörung.

Durch das Zerstören russischer Munitionsdepots zwingt man die Russen nun, die Depots viel weiter im Hinterland anzulegen. Die Taktik der „dummen“ russischen Feuerwalze erfordert aber, dass aus diesen Depots, die nun an die 100km von der Front entfernt liegen, täglich tausende Tonnen Artilleriegranaten, Raketen und Treibstoff an die Front geschafft werden müssen. Nun muss man sich vorstellen, dass eine Artilleriegranate gute 50-100kg wiegt, von einer Rakete ganz zu schweigen. Das sorgt für kilometerlange, aus der Luft von weitem sichtbare Lastwagenkonvois an die Front. Wer möchte hier noch zusätzliche LKW für medizinischen Bedarf oder persönliches Equipment der Soldanten verschwenden?

Zwar gab es viele technologische Innovationen, auch solche, die die Präzision russischer Angriffe erhöhen könnten. Diese sind beim russischen Militär jedoch aufgrund von Bestechung, Veruntreuung und Betrug nie wirklich zustande gekommen oder nie in Serie gegangen. Ein russisches Rüstungsunternehmen erhielt beispielsweise 2012 rund 26 Millionen US-Dollar für die Entwicklung eines Flugzeugsystems zum Abfangen nicht-strategischer Raketen, wie die lokale Presse berichtete. Die Forschung kam jedoch nie in Gang, da das Unternehmen betrügerische Verträge mit Briefkastenfirmen unterzeichnete, von denen einige auf die Adressen von öffentlichen Toiletten in der russischen Region Samara registriert waren.

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Foto: Reuters

Dedowschtschina – Gewalt in der Kaserne

„Dieses System stammt noch aus der Zarenzeit.“

Über Sieg und Niederlage entscheidet im Krieg nicht zu­letzt die Moral der Streitkräfte. Je länger ein Krieg dauert, je aufreibender er ist, desto wichtiger wird die psychische Verfassung der Soldaten. Seit Kriegsbeginn beweisen die ukrainischen Kampfeinheiten eine moralische Stärke, der weltweit Respekt gezollt wird. Wie aber steht es um die Moral der russischen Streitkräfte?

Während die Befehlsstruktur der ukrainischen Streitkräfte durchaus auch Raum für eigene Entscheidungen und eigenmächtiges Handeln kleinerer Einheiten im Feld erlaubt, ist es russischen Soldaten streng untersagt, eigene Entscheidungen zu treffen. Die Befehlsstruktur in der russischen Armee ist äußerst hierarchisch. Schlimmer noch, Misshandlungen und Schikanierung sind hier immer noch an der Tagesordnung. Dieses als Dedowschtschina („Herrschaft der Großväter“) bekannte System bezeichnet das in den russischen Streitkräften und Streitkräften anderer postsowjetischer Staaten teilweise bis heute übliche Schikanieren jüngerer wehrpflichtiger Soldaten durch Dienstältere. Und hier geht es nicht um kindische Streiche wie das Einschliessen in Kleiderspinde, sondern um schwerste körperliche Misshandlungen, monatelanges, systematisches Mobbing und sogar Vergewaltigungen.

Wer seine Ausbildung in einem solchen System der Unterdrückung und Gewalt absolviert, lernt schnell, „die Klappe zu halten“. Natürlich halten sich Moral, Begeisterung, Heldenmut und Patriotismus bei Soldaten, die unter einem solchen System leiden mussten, in sehr engen Grenzen.

Das Phänomen der Dedowschtschina lässt sich bis in die Zarenzeit zurückverfolgen. Es weist offensichtliche Verbindungen zum Straflagersystem in der Zaren- wie Sowjetzeit auf und griff seit den 1970er Jahren in den sowjetischen Streitkräften immer weiter um sich. Dabei handelt es sich nicht um klassische Initiationsriten, wie sie häufig bei der Aufnahme in geschlossene Gemeinschaften üblich sind, sondern um kontinuierliche Praktiken über einen längeren Zeitraum hinweg. Ihr Unterworfene haben die Arbeiten der „Großväter“ wie Revierreinigen usw. zu erledigen, ihnen werden außerdem der Sold und Zuwendungen Angehöriger abgenommen. Ein beleidigender Umgangston ist selbstverständlich, ausgefeilte psychische Quälereien treten hinzu. Die Schikanen erreichen mit Körperverletzungen, Vergewaltigungen und Morden nicht selten schwer kriminelles Ausmaß. Die Dedowschtschina ist häufig die Ursache für unerlaubtes Entfernen von der Truppe bis hin zu vielen dokumentierten Selbstmorden in der russischen Armee.

Bei der in der DDR stationierten Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland wurde das mit der Dedowschtschina zusammenhängende Entfernen von der Truppe mit drakonischen Strafen belegt. Die Flüchtigen wurden häufig mit Hunden verfolgt. Viele kamen bei den verzweifelten Fluchtversuchen ums Leben. Bis über die Mitte der 1980er Jahre hinaus galt das Phänomen in der Sowjetunion als Tabuthema, erst die sogenannte Glasnost unter Staats- und Parteichef Gorbatschow trug dazu bei, dass eine breite Öffentlichkeit Notiz davon nehmen konnte. Viele Betroffene versuchen, sich mit Hilfe von Korruption und hohen Bestechungsgeldern der Einberufung zu entziehen.

Jedes Jahr werden Soldaten als Invaliden aufgrund von Misshandlungen, Vergewaltigungen und psychischen Peinigungen aus der russischen Armee entlassen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums gab es im Jahr 2010 bis Anfang September mehr als 1700 Dedowschtschina-Opfer. Im Jahr 2005 starben 16 Soldaten an den Folgen von Misshandlungen, 276 begingen nach Quälereien und Erniedrigungen durch Vorgesetzte Suizid, andere Quellen sprechen von über 500 Opfern. Ungeklärt ist, weshalb manchen Opfern vor der Überstellung zur Beerdigung innere Organe entfernt wurden. Angehörige vermuten, dass diese in den Organhandel gelangen.

2019 erregte der Fall von Ramil Shamsutdinov Aufsehen. Aus Angst vor Dedowschtschina erschoss der Rekrut in seiner Kaserne bei Tschita acht Kameraden und verletzte zwei schwer.

Wen wundert es, dass Soldaten, die bereits in der Ausbildung so schwer misshandelt werden, später abscheuliche Gewaltakte begehen oder die erstbeste Gelegenheit nutzen, sich unerlaubt von der Truppe zu entfernen?

Auf der nächsten Seite: Allgegenwärtige Korruption.

Korruption

„Geisterbataillone“ existieren nur auf dem Papier.

Russische Soldaten warten nach übereinstimmenden Berichten oft vergeblich auf Nachschub an ausreichend Nahrung und Munition. Videos zeigen funktionsfähige Panzer, die mitten im Gelände liegen bleiben, weil ihnen der Treibstoff ausgegangen ist. Anderen Radfahrzeugen hat es die Reifen abgerissen, was darauf hindeutet, dass diese Systeme über eine längere Frist nicht bewegt wurden. Die russische Armee scheint Probleme mit den grundlegendsten Dingen zu haben – und das, obwohl sie als eine der stärksten der Welt galt. Wo ist das ganze Geld für die Instandhaltung hingegangen?

Möglicherweise in die Taschen von Lokalpolitikern und lokalen Kommandeuren.

Eine der Hauptursachen für den – trotz der Modernisierungen in den letzten Jahren – erschreckend maroden und altmodischen Zustand der russischen Armee ist die allgegenwärtige Korruption und Selbstbereicherung im russischen System. In einem System, in dem es kein menschliches Mit- sondern nur ein Gegeneinander gibt, hat jeder von Jugend an gelernt, nur auf das eigene Wohl zu achten.

Auch in der Armee ist die Korruption deshalb allgegenwärtig, von den kleinsten Rängen bis hinauf in den Generalstab. Und das Problem der Korruption innerhalb der Armee ist zugleich ihr größtes überhaupt. Nachdem die ukrainischen Kräfte mehr und mehr russische Panzer unter ihre Gewalt bekommen oder zerstört hatten, wurde klar, welche Ausmaße Korruption in russischen Einheiten angenommen hatte. Bei nicht wenigen Panzern fand man beispielweise, dass gar keine funktionierende Reaktivpanzerung verbaut war, sondern es sich nur um harmlose Attrappen handelte, in denen gar kein Sprengstoff verbaut war. Wohin immer dieser verschwunden ist, der sich eigentlich in den dafür vorgesehenen „Bricks“ befinden sollte, ist unbekannt. Ebenso, ob dieser Sprengstoff überhaupt jemals angeschafft und dann illegal verkauft wurde, oder die ganze Zeit nur auf dem Papier existierte. Statt dem Sprengstoff fand man in den dafür vorgesehenen Kammern lediglich Gummimatten und… Eierkartons! Wo wir gerade bei Pappe sind – auch in den Panzerwesten russischer Infanteristen fand man statt Kevlargewebe oder Panzerplatten nur gepresste Pappe! Das macht russische Soldaten wohl wortwörtlich zu Pappkameraden.

Dann gibt es noch die sogenannten „Geisterbataillone“, die nur auf dem Papier existieren. Nicht selten kommt es vor, dass Vorgesetzte der Armee Sold für Mitarbeiter kassieren, die es gar nicht gibt. Der Fall von Oberstleutnant Vadim Kazarjan, der zwei Rekruten nach ihrem Armeedienst als Vertragssoldaten registrieren ließ, obwohl sie die Armee verlassen haben, ist nur einer von vielen. Die Justizbehörden bezifferten den Schaden damals auf 20.000 Euro. Mit diesen nicht existierenden Einheiten wird im Generalstab gerechnet, da dieser davon ausgeht, dass sie existieren – ebenso wie angeblich existierende Panzer und Raketensysteme, die längst ausgeschlachtet und unter der Hand an Waffenhändler verkauft wurden.

Tatsächlich könnte systematische Korruption beim russischen Militär ein Grund dafür sein, dass russische Truppen es nicht schaffen, entscheidende Erfolge in der Ukraine zu erzielen. Korruption auf operativer Ebene behindert die russische Logistik, was dazu führt, dass die Soldaten schlecht versorgt und ausgerüstet sind. Dies schwächt die militärische Effizienz enorm. So gab es zu Beginn der Invasion Berichte über russische Soldaten, die mit Fertiggerichten und Trockenrationen in die Ukraine geschickt wurden, die seit 2015 abgelaufen sind.

„Treibstoff wird beim russischen Militär bereits als zweite Währung bezeichnet.“

Auch an Treibstoff scheint es den russischen Truppen im Krieg oft zu fehlen – und das in einem Land, das reich an Öl und Gas ist. Es ist plausibel, dass die langjährige Tradition der Korruption bei der Treibstoffversorgung das Tempo des russischen Vormarsches in der Ukraine verringert hat. Treibstoff wird beim russischen Militär bereits als zweite Währung bezeichnet. Möglich mache dies die mangelnde Kontrolle des Kraftstoffverbrauchs. Tatsächlich gibt es immer wieder Meldungen über Mitarbeiter der Armee, die viel Geld mit dem Verkauf des Benzins oder Diesels machen. So berichtete die Nachrichtenagentur Tass 2019 zum Beispiel über drei Soldaten in Sewastopol auf der annektierten Krim, die 126 Tonnen Kraftstoff gestohlen und für 3,6 Millionen Rubel verkauft haben.

Vor allem nach dem Georgienkrieg 2008 musste Russland feststellen, dass seine Truppen für langwierige, moderne Konflikte nicht gerüstet waren. Der damalige Verteidigungsminister Anatoli Serdjukow sollte Abhilfe schaffen und das Militär reformieren, was er auch durchaus erfolgreich umsetzte. Allerdings bekämpfte der Minister auch Korruption und Geschäfte mit Waffenproduzenten, die gegen den Wettbewerb verstießen. Die Zahl seiner Gegner wuchs daher derart, dass er 2012 abgesetzt wurde. Sein Nachfolger Sergej Schoigu verstand es, sich das Wohlwollen aller Beteiligten zu sichern, indem er nicht gegen Korruption vorging, es sich nicht mit Waffenlieferanten verscherzte. So kam es, dass Russland sich vom Effizienzgedanken wieder verabschiedete.

Schoigu begann, regelmäßig Berichte über die erfolgreiche Rüstungsbeschaffung zu veröffentlichen. So gab das Verteidigungsministerium den „Prozentsatz der Aufrüstung“, also den Anteil neuen Militärmaterials, im Januar 2022 mit über 70 Prozent an. Diese Zahlen seien jedoch „absolut fiktiv“, berichtete das Organized Crime and Corruption Project. „Wir sehen neue Modelle von Ausrüstungen – Raketen, Panzer, U-Boote – aber nur in Einzelfällen“, zitierte die Organisation einen Militärforscher. Das könnte erklären, warum in der Ukraine vor allem uralte sowjetische Systeme zum Einsatz kommen.

Der Ukraine spielt all dies in die Hände. So bedankte sich Oleksandr Nowikow, Leiter der ukrainischen Antikorruptionsbehörde, bereits bei Russlands Verteidigungsminister Schoigu – die Veruntreuung öffentlicher Gelder leiste einen „unschätzbaren Beitrag“ zur Verteidigung der Ukraine.

Seltsam? Aber so steht es hier geschrieben... Ihr habt Fragen, Anregungen oder vielleicht sogar eine völlig andere Meinung zu diesem Artikel? Dann postet einen Kommentar.

Mike vom Mars Blog - mike-vom-mars.comAutor: Mike vom Mars
Mike emigrierte vor einigen Jahren von seinem Heimatplaneten auf die Erde, um das Leben am wohl seltsamsten Ort des Universums zu studieren. Seiner Bitte "bringt mich zu eurem Führer" wurde bisher nicht entsprochen.

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