Das John Stuart Mill Dilemma
Der Philosoph John Stuart Mill postulierte ein (hypothetisches) Dilemma: ein Japaner möchte eine Brücke überqueren. Wir wissen, das sie beschädigt ist, können es ihm aber nicht sagen, da wir seine Sprache nicht sprechen. Dürfen oder müssen wir notfalls mit physischer Gewalt aufhalten? Die wenigsten würden wohl grundsätzlich nein sagen. Ein eher gemäßigter, aber dennoch paternalistischer Ansatz wäre es, zu sagen: Ja, und zwar solange, bis sichergestellt ist, dass er um die Gefahr der Situation weiß – um dann selbst wissentlich und willentlich eine Entscheidung zu treffen. Härtere Paternalisten könnten argumentieren, dass man ihn auch dann noch aufhalten dürfe, wenn er um den Zustand Brücke weiß, aber sie trotzdem überqueren möchte – die Verhinderung des potenziellen Schadens (im schlimmsten Fall der Selbstmord) wiegt schwerer als die autonome Entscheidung der Person. Oder genügt es vielleicht, ihm nur irgendwie klar zu machen, daß die Brücke gefährlich ist – wie immer er dann auch selbst entscheidet?
In meinen Augen ist diese Diskussion müssig, denn:
Der freie Wille eines Individuums ist grundsätzlich unantastbar, sofern:
- Das Individuum mündig (also erwachsen und geistig zurechnungsfähig ) ist.
- Keine anderen Personen zu schaden kommen, die es zu schützen gilt.
- Das Individuum die nötigen Informationen hat, um eine eigene Entscheidung zu treffen.
Dieses “Gesetz des freien Willens” ist eigentlich unantastbar und darf nicht aufgehoben werden, sofern obige Anforderungen im Einzelfall zutreffen. Nicht, wenn es um Ernährung geht, nicht wenn es um gesundheitliche Gefahren geht, ja nicht einmal, wenn es um das Thema Sterbehilfe geht. Das ureigenste Recht eines Menschen ist es, selbst über den eigenen Tod (und damit das eigene Leben) bestimmen zu dürfen. Und selbst vor diesem Grundrecht macht der Paternalismus keinen Halt. Es ist schlicht Heuchelei, gegen die Todesstrafe zu sein und gegen Sterbehilfe -denn auch, wenn ich einer Person verbiete, sich das Leben zu nehmen, bestimmte ich über ihr Leben und ihren Tod. Es ist beides das selbe. Nur das uns “Leben” generell und ohne darüber nachzudenken immer besser als “Tod” vorkommt -so qualvoll oder stumpf es auch sein mag.
Freiheit stirbt heute scheibchenweise. So mögen viele Einzelmaßnahmen für sich allein betrachtet auch gar nicht weiter schlimm sein, vielleicht ein bisschen lästig oder nervig für die Betroffenen, manchmal aber auch praktisch oder bequem. Es ist die schiere Masse der kleinen Eingriffe in alle möglichen Lebensbereiche, die den Paternalismus zu einem Problem werden lässt, das uns alle angeht und glücklicherweise auch immer mehr Menschen sauer aufstößt, denn vor allem das trübe Menschenbild hinter den Eingriffen rührt an den geistigen Fundamenten einer freien Gesellschaft.
Paternalismus hält seine Schützlinge grundsätzlich für unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Und das ist das Problem. Paternalismus entmündigt und beleidigt gleichermassen. Ob das unseren “beschützenden”, übereifrigen Politikern wirklich bewusst ist?
Wir sind im Begriff, völlig paranoid zu werden
Paternalismus schürt Angst. Wir kennen das von bevormundeten Kindern, die sich schliesslich selbst nichts mehr zutrauen und ständig hilfesuchend nach den Eltern schielen, um ja nichts falsch zu machen. Der moderne Paternalismus versteckt sich hinter der vorgeblichen „Evidenz“ wissenschaftlicher Studien und der Autorität von Experten, die sich auf eine fast schon pseudoreligiös anmutende, kritiklose Verklärung „der Wissenschaft“ in Teilen der Bevölkerung stützen können. Dies zeigt sich vor allem auf einem weiteren Tummelplatz der Bevormunder: der Ernährung.
“Die Wissenschaft hat festgestellt”, so die gängige Phrase, das wir uns auf tausend heimtückische Arten den Tod holen können: ob Krebs durch Grillfleisch, zu stark erhitztes Fett, zu viel Salz, zu viel Cholesterin (aber dabei bitte beachten, das es “gutes” und “böses” Cholesterin gibt), rotes Fleisch, Fast Food, Süssigkeiten, Glutene, Lactose -all das kann doch kein Mensch mehr im Blick behalten. Deshalb möge man den Bürger doch bitte vor sich selbst schützen. Und der Bürger zieht dabei mit: 64 Prozent der Deutschen wünschen sich gar ein Verbot von gesundheitsgefährdender bzw. ungesunder Nahrung – was auch immer das ist.
Wir müssen uns dieser Entmündigung wieder bewusst werden.
Die wohl grausamste Form des Paternalismus ist aber, wenn Eltern “zum Wohl des Kindes” das Sorgerecht entzogen wird -wobei sich allerdings die hinterher von Gerichten wieder korrigierten Fehler der Jugendämter immer mehr häufen. Auch die Zahl derer, die von Nachbarn oder Fremden beim Amt angeschwärzt worden sind, wächst – 16.000 allein in Bayern im letzten Jahr, wobei es sich bei einem Drittel der Anrufe um Fehlalarm handelte.
Selbst in der Sprache werden wir bevormundet: durch die Einführung des Binnen-I’s (Beispiel: AutofahrerInnen) werden wir nicht etwa dazu angehalten, dem Geschlecht einer Person weniger Aufmerksamkeit zu widmen, nein, genau das Gegenteil ist der Fall. Diese sehr unästhetische Form politisch-korrekter Sprachumerziehung setzt vor allem auf sozialen Druck und Konformitätszwang. Immer mehr Institutionen und Individuen praktizieren sie.
Es liessen sich noch hunderte weitere Beispiele anführen, die uns unserer eigenen Entscheidungen und damit unserer Freiheit berauben. Ob in kleinen, alltäglichen Dingen, oder im Grossen. Und sowohl im Kleinen, als auch im Grossen sollten wir uns dieser Entmündigung langsam wieder bewusst werden und uns dagegen stellen.
Sonst kann es sein, das wir eines Tages nur noch Zombies sind, die keine eigenen Entscheidungen mehr treffen können oder wollen und bei jeder Gelegenheit darauf warten, das eine “höhere Instanz” sie uns doch bitte abnimmt.
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es sind die endogenen Deformationen im deutschen Gemüt
die diesen immergleichen Spasmus des prohibitierens
des befehlens und natürlich gehorchens hervorbringen
In kaum einem anderen Land kann man das in dieser deutsch gründlichen Inbrunst beobachten und das wo wir es nach zwei Zwansstaatssystem gelernt haben sollten.
Ich denke, es liegt einfach nur an unserem preussischen Erbe -die deutschen sind es gewohnt, das man ihnen sagt, was sie tun sollen.Vielleicht sind sie auch zu ängstlich, um eigene Entscheidungen zu treffen. Es gibt eben Länder, in denen Menschen mehrheitlich eine Macher-Mentalität esitzen und Länder, in denen die Menschen eher Führung brauchen. Deutschland gehört zu letzteren -das zeigt sich u.a. an der niedriegen Selbständigenrate hierzulande. Das ist den meisten Deutschen viel zu viel Risiko und viel zu viel Eigenverantwortung, also ziehen sie es vor, sich vom Chef sagen zu lassen, was getan werden soll…
die monopole "Wirklichkeits"inszenierung der Staatssprachrohre vom Schlage B.Zeitung sekundieren
dem eifrig zunehmenden paternalistischen Staatswesen.
Die offenkundige Pönalisierung rundet den Reigen der Volkserziehung ab.Der Deutsche trägt es willig und ist in Agonie entrückt.Personen die aus dieser Lethargie heraustreten
sind obligatorisch als verdächtig einzustufen.
Weiteres regeln dann die Medien..Die Methode ist nicht neu
wirksam ist sie jedenfalls noch..
Hallo,
ich recherchiere gerade für eine Unterrichtsreihe zum Thema politische Philosophie und mir ist in deiner Argumentation etwas aufgefallen, auf das ich gerne hinweisen würde.
In seinem Aufsatz "Idee und Wirklichkeit der Selbstbestimmung im modernen Staat. Von der Rückkehr des Menschen in seine selbstverschuldete Unmündigkeit" unterscheidet Uwe Volkmann (ein mir bis dato auch unbekannter Rechtswissenschaftler) zwischen Freiheit und Autonomie.
Er bemängelt, dass diese Unterscheidung heutzutage nicht mehr gemacht wird, sondern beide Begriffe synonym verwendet werden. Und ich würde jetzt sagen, um meine Kritik zu pointieren, die Argumentation deines Artikels macht diese Unterscheidung auch nicht. Der Mensch solle frei sein, gerade dann, wenn er erwachsen sprich mündig ist. Man solle ihm nicht alle Entscheidungen abnehmen, denn das mache ihn tatsächlich unmündig. So lautet doch die Forderung in nuce.
Ich würde an dieser Stelle also einwenden, dass das Erreichen von 18 Jahren nicht automatisch Mündigkeit mit sich bringt. Juristische Mündigkeit im Sinne von Verantwortlichkeit ja. Nicht aber tatsächliche Mündigkeit. Uwe Volkmann schrieb, dass Freiheit gepaart mit moralischer Verantwortlichkeit oder Mündigkeit zu Autonomie führe. Ein autonomer Mensch benötigt dann in der Tat keine paternalistischen Gesetze, weil er weiß, dass er den Bourbon erst trinken sollte, wenn er Zuhause ist. Oder nur so viel, dass er andere nicht in Gefahr bringt.
Ich klinge jetzt fast wie ein Konservativer: der Staat kann oder will bei den Bürgern vielleicht keine Moral mehr voraussetzen. Alle fordern Freiheit, sind aber von Autonomie weit entfernt, da sie sich nur noch dann an die Gesetze halten, wenn sie Strafen fürchten usw. Und dort wo das Maß an Freiheit steigt, muss dann auch das Maß an Sicherheit steigen, damit ich mich vor der Freiheit der Anderen nicht fürchten muss.
Also, was sagst du zu der These: der Staat verlässt sich begründet nicht mehr auf die Mündigkeit der Bürger. ? Bzw. Der Staat hat ja auch die Aufgabe Sicherheit herzustellen. Dieser kommt er nach, wenn er eine verpflichtende Krankenversicherung zum Gesetz macht.
Ein guter Einwand. Ich denke, man kann grundsätzlich zwei Situationen unterscheiden: Entscheidungen, mit denen ein Individuum sich potentiell SELBST schädigt, und solche, durch die potentiell ANDERE geschädigt würden.
Ein vernunfbegabtes Wesen muss grundsätzlich in der Lage sein, eigene Entscheidungen in die Tat umzusetzen, ob die daraus resultierenden Konsequenzen für dieses Individuum nun gut oder schlecht sind. Das ist für mich das "Gesetz des freien Willens". Nur so lernt und reift das entsprechende Individuum -indem es die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen trägt. Wenn man es vor diesen Konsequenzen bewahrt, oder sogar dafür sorgt, das es niemals mit ihnen in Berührung kommt, erzeugt man eine Generation von weltfremden Menschen ohne praktische Intelligenz.
ABER: was, wenn durch die Tat eines Individuums andere Menschen gefährdet würden? Dann, und NUR DANN hat eine übergeordnete Instanz eigentlich das Recht, sich über den freien Willen des Individuums hinwegzusetzen, ihn zu zwingen oder zu bevormunden.
Worauf mein Artikel aber eigentlich abzielt, ist eine viel subtilere Ebene: der Staat ist ÜBERVORSORGLICH. Er nimmt uns nicht nur die meisten Entscheidungen, sondern bereits das ÜBERDENKEN möglicher Konsequenzen ab. Er blockiert damit den nötigen und lebenswichtigen Lernprozess. Und zwar in solch einem Ausmass, das vom Einzelnen gar nicht mehr verlangt wird, die Konsequenzen seines Tuns detailliert zu überdenken.
Was passiert mit überbehüteten Kindern, deren Helikopter-Eltern dauernd um sie herumkreisen? Sie werden entscheidungsschwach, weltfremd, zögerlich, manipulierbar. Das ist durch Studien mittlerweile deutlich belegt. Sie vertrauen der eigenen Erfahrung nicht mehr und sind dazu noch anfälliger für Drogenkonsum als jede andere Gruppe. Und genau das ist es, was der Staat momentan mit uns macht. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren, aber "Nächstenliebe" ist sicher nicht der Beweggrund des Staates. Eine Eigenschaft, die mir bei Deutschen immer wieder auffällt, ist, das sie sich gegenseitig seltsamerweise für dumm halten. Das spiegelt sich nicht nur im Umgang zwischen Forumusern hierzulande wieder, sondern eben auch zwischen Politikern und Bürgern. Woher diese Mentalität kommt, ist mir schleierhaft.