Die Katastrophe
„Ich sah eine tote Mutter und ihr Kind in einem See voller Trümmer treiben.“
Die achtzehnjährige Tei Suzuki hat das Beben überlebt – viele andere hatten weniger Glück. Die heute 108-jährige Zeitzeugin erlebt den September 1923 als junge Apothekenhelferin und wurde Zeugin des schlimmsten Erdbebens in der Geschichte Japans. „Ich bereitete gerade einige Rezepte vor. In unserem Krankenhaus befanden sich zwischen fünfzig und zweihundert Menschen. Es begann ganz plötzlich.“, erzählt Suzuki, „am Anfang hörten wir ein Rumpeln. Die Menschen riefen ‚Raus hier! Raus hier!‘ und alle versuchten zu fliegen.“
Die Leute begriffen sofort, das dies ein starkes Erdbeben sein musste. Allerdings wurden die nächsten Erdstösse immer heftiger und selbst erfahrene Seismoligen erkannten, das dies kein normales Erdbeben mehr war. Keines wie sie es bisher jemals erlebt hatten. Noch heute kommen Tei Suzuki die Tränen, wenn sie über jenen schicksalhaften Tag berichtet: „Da lagen neun oder zehn Menschen leblos übereinander. Ich sah eine tote Mutter und ihr Kind in einem See voller Trümmer treiben. Ich hatte keine Angst, sondern fühlte überhaupt nichts. Ich war einfach… überwältigt.“
Tei Suzuki und viele andere glauben, die Katastrophe sei überstanden. Ein schrecklicher Irrtum.
Bordelle werden zur Todesfalle
Schon lange vor 1923 war Tokyo bereits ein Ballungsraum von sehr dicht beieinander gebauter Holzhäusern. Dazwischen enge, verwinkelte Gassen. Ein hölzernes Pulverfass, das nur auf den zündenen Funken zu warten scheint. Und er kommt zur denkbar ungünstigsten Zeit. Das Beben geschieht mittags, als die Menschen auf offenem Feuer kochen.
Knapp eine Stunde nach dem Erdbeben nimmt die eigentliche Katastrophe ihren Lauf. Der Rotlichtbezirk Yoshiwara steht in Flammen. Die Prostituierten in den vielen Bordellen des Viertels sitzen in der Todesfalle. Die Betreiber wollen ihre wertvolle Einnahmequelle nicht verlieren und sperren die Frauen deshalb in den Häusern ein. Die Tore sind verschlossen, so das sie nicht fliehen können. Die eingeschlossenen Mädchen geraten in Panik, während sich eine riesige Feuerwalze durch das Viertel frisst.
Als die Flammen immer näher kommen, öffnen die Zuhälter die Bordelle und bringen die Frauen in einen Park mit einem kleinen Teich. Sie glauben, hier seien sie in Sicherheit. Die riesige Feuerwand lässt den Teich als guten Schutzort erscheinen, doch die Frauen laufen in ihr Verhängnis. Einer nach der anderen springen in den Teich, während die Flammen bereits die Ränder des Parks erreicht haben. In panischer Angst flüchten immer mehr Frauen ins Wasser. Mit der Zeit werden es so viele, das sie jene Frauen, die sich am Rand des Teichs festklammern, in die Mitte drücken. Während die einen hineindrängen, ertrinken andere bereits. Gleichzeitig regnet die glühende Asche des Feuers auf den Teich herab.
Innerhalb weniger Minuten ist das Wasser aufgewühlt von einer brennenden Menschenmasse, die sich in Panik zu retten versucht. Als die Feuer am späten Nachmittag erloschen waren, zog man schliesslich die Körper von 490 toten Frauen aus dem Teich. Die ältesten von ihnen gerade einmal neunzehn Jahre alt.
40.000 Menschen – eingekesselt vom Feuersturm
In Tokyo und Yokohama lodern hunderte grosser Brände. Doch es kommt noch schlimmer. Zur gleichen Zeit erreicht ein Taifun die Küsten Japans. Doch er bringt nicht Regen, der die Flammen löschen könnte, sondern kräftigen Wind, der erst recht eine Flammenhölle entfacht. Dies erklärt, mit welcher Geschwindigkeit und Kraft die vielen Brände die Stadt zerstörten.Auch der Bezirk Honjo steht in Flammen. Doch das dicht besiedelte und mit engen Holzhäusern bebaute Stadtviertel grenzt an eine grosse Fläche Brachland. Als die Flammen bereits die Häuser verzehren, fasst der örtliche Polizeichef einen folgenschweren Entschluss: die Bewohner sollen auf dem offenen Gelände Schutz suchen. Er dirigiert schliesslich fast 40.000 Menschen auf dieses offene Stück Land. Es scheint in der Tat ein sicherer Ort zu sein, weil es dort keine Gebäude gibt, die Feuer fangen können.
Nun stehen die Menschen dicht gedrängt auf diesem Gelände. Sie begreifen die Situation nicht: das die Brände von allen Seiten näher kommen – und gegen drei Uhr Nachmittags sitzen sie alle in der Falle. Um sie herum tobt ein gewaltiger Feuersturm. All diese Menschen, 40.000 an der Zahl, werden in den folgenden fünfzehn Minuten sterben.
Die Menschen drängen sich immer dichter zusammen, viele haben Bettzeug bei sich und sogar Möbelstücke, die sich plötzlich zu entzünden beginnen. Die Feuer sind so heiss, das alles brennbare sofort in Flammen aufgeht – sogar die Kleidung, die sie am Körper tragen. Ãœber der Brandhölle von Honjo ist kein Tageslicht mehr zu sehen. Die Luft heizt sich wie ein Glutofen auf. Und dann geschieht etwas merkwürdiges: inmitten der dichten Wand aus Rauch und Feuer erhebt sich eine monströse Kraft der Natur – der tödliche Wirbel eines riesigen Feuer-Tornados.
Nach dem Beben, dem Erdrutsch und der Feuersbrunst rasen nun etliche brennende Tornados durch Tokyo und Yokohama. Der mit Abstand grösste von ihnen wütet in Honjo. Eine Verkettung von tragischen Umständen findet ihren tödlichen Höhepunkt dort, wo mehr als 40.000 Menschen Schutz suchen.
Auf der nächsten Seite: Eine Zerstörung von apokalyptischen Dimensionen.
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