Bereits seit mehreren Monaten läuft die Sommeroffensive der Ukraine, wobei sie langsam, aber stetig besetztes Gebiet befreit. Manchen aber, die glauben, den Wert einer Offensive nur in Geländegewinnen messen zu können, geht diese nicht schnell genug. Woran liegt’s?
Seit Beginn der Gegenoffensive wird viel darüber geschrieben und gesprochen – nach Ansicht einiger läuft sie nur schleppend, dann zu langsam, aber immer auf keinen Fall so, wie sich viele von uns das gewünscht haben. Nach dem, was wir bei der letzten Offensive der Ukraine erlebt haben, ist das eigentlich überraschend. Anscheinend sind viele davon ausgegangen, dass sie einfacher sein würde. Man hat sich auch Monate lang darauf vorbereitet.
Offenes Gelände
Die Absicht der Ukrainer ist es, zum Azovschen Meer vorzustoßen, um so die russische Landbrücke zur Krim zu durchbrechen. Das sind mittlerweile nur noch ca. 60 km, die man überwinden muss. Und es war ja kein Geheimnis, dass der Schwerpunkt der ukrainischen Gegenoffensive der Süden sein würde. Den Russen war das völlig klar und durch das Zögern der westlichen Politik hatten diese so genug Zeit, sich den ganzen Winter und das Frühjahr über, sprichwörtlich einzugraben.
Das Gelände im Süden ist offen, es gibt wenig Deckungen. Eine schwierige Topografie. Die russischen Streitkräfte sind diesmal bereits deutlich erfahrener. Es hat kein Überraschungsmoment gegeben und, wie gesagt, sie hatten viel Zeit, sehr viel Zeit, um sich für die Verteidigung der von ihnen kontrollierten Gebiete vorzubereiten.
Die Russen hatten genug Zeit, nicht nur mehrere starke Verteidigungslinien im Süden zu ziehen, die sich fast den gesamten Süden der Ukraine entlang ziehen, sondern diese auch noch mit Millionen von Minen und Sprengfallen zu versehen. Vor allem diese dichten Minenfelder haben dazu geführt, dass die Offensive von Anbeginn an in Stocken geraten ist und die ukrainischen Verbände nur sehr langsam vorrücken können, um Material und das Leben der eigenen Soldaten zu schonen. Die russischen Minenfelder sind zusätzlich durch russische Artillerie gesichert und werden durch Drohnen überwacht.
Und hier gibt es inzwischen bei den Russen ein immer besseres Zusammenspiel. Entdecken diese Drohnen vorrückende gepanzerte ukrainische Verbände, dauert es mittlerweile nur noch vier bis fünf Minuten bis die Artillerie beginnt, diese Truppenteile zu bekämpfen. Noch zu Beginn des Krieges war diese Spanne auf russischer Seite erheblich länger. Die russischen Streitkräfte haben in dieser Hinsicht deutlich dazu gelernt.
Zu wenige Minenräumfahrzeuge
Die ukrainischen Streitkräfte verfügen zwar über schweres Minenräumgerät, aber schon in den ersten Tagen der Gegenoffensive im Süden hat sich gezeigt, dass diese von den russischen Streitkräften in offenem Gelände schnell aufgeklärt werden. Auch das hat anfangs zu hohen Verlusten geführt, gleich zu Beginn wurden mehrere westliche Minenräumfahrzeuge zerstört, von denen die Ukraine nicht einmal allzu viele hat.
Hinzu kommt, dass die russische Artillerie auch Minen in den Rücken der angreifenden Verbände verschießt. Vorrückende ukrainische Einheiten, die auf Minenfelder auflaufen, stecken dann buchstäblich fest, weil dann auch der Rückweg vermint ist. Und diese so festsitzenden Gefechtsfahrzeuge sind dann dem sofort folgenden russischen Artilleriefeuer ausgesetzt. Keine leichte Situation.
Schnell hat sich auch gezeigt, dass die Zahl der in der Gefechtszone stationierten ukrainischen Flugabwehrsysteme unzureichend ist. Diese werden weiterhin überwiegend dazu genutzt, um ukrainische Städte vor den regelmäßigen Raketen und Drohnenangriffen zu schützen. Man hat zu wenig davon, um auch die gesamte Südfront damit schützen zu können. Aber selbst wenn die wenigen Flakpanzer, wie der Gepard, versuchen, das Vorgehen der ukrainischen Gefechtsfahrzeuge zu decken, gelingt es oft nicht, die russischen Kampfhubschrauber wirksam zu bekämpfen, denn die modernen Helikopter vom Typ Ka-52 („Alligator“) sind in der Lage, ihre Raketen aus einer Distanz von 10 Kilometern auf ukrainische Kampf- und Schützenpanzer abzufeuern. Der Gepard-Flugabwehrpanzer hat aber mit seiner 35 mm Zwillingskanone
nur eine Reichweite von 5.000 Metern.
Außerdem setzen die russischen Streitkräfte immer öfter auf sogenannte Gleitbomben, die von Kampfflugzeugen bereits aus einer Entfernung von bis zu 60 Kilometern ausgeklinkt werden und dann vorrückende ukrainische Gefechtsfahrzeuge treffen sollen. Das heißt, in der Kampfzone haben die russischen Streitkräfte eine örtliche Luftüberlegenheit und auch dadurch wird das Vorrücken ukrainischer Verbände erheblich erschwert.
Jedes Zögern nutzt nur den Russen
Sind die russischen Streitkräfte womöglich doch dramatisch unterschätzt worden? Nun, dramatisch nicht, aber sie sind unterschätzt worden. Westlichen Politikern und Militärs war bei ihrem Geschachere über Panzer und Kampfflugzeugen nicht klar, dass jedes Zögern und jeder erfundene „rote Linie“ wirklich nur Russland nützt. Was das angeht, hat der Westen sich möglicherweise doch etwas verkalkuliert.
Die russischen Streitkräfte, das muss man sehen, sind zwar nicht mehr zu großräumigen Offensiven in der Lage, aber sie sind durchaus lernfähig, denn vor allem im Süden hat es gerade in der Anfangsphase der ukrainischen Gegenoffensive eine bewegliche russische Verteidigung gegeben: sobald die ukrainischen Angriffe gestoppt werden konnten, sind russische Einheiten oftmals zu lokalen Gegenangriffen übergegangen. Den Ukrainern blieb dann oftmals nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten.
Das Ziel der Ukraine ist es, den bisherigen Stellungskrieg zu überwinden und in einen Bewegungskrieg überzugehen – denn nur so kann Kiew die unter russischer Kontrolle stehenden Gebiete befreien und schließlich halten. Leider helfen hier auch die tollen Ratschläge westlicher Militärs nicht, denn die NATO kennt einen Kriegsfall wie diesen mittlerweile nicht mehr und hatte einen solchen gar nicht auf dem Schirm. Auch nicht während der Ausbildung tausender ukrainischer Soldaten in europäischen Kasernen. Dort riet man ukrainischen Soldaten, ganz nach NATO-Doktrin der alten Schule, „Luftüberlegenheit herzustellen“ oder „Minenfelder zu umfahren“. Weder kann die Ukraine aber Luftüberlegenheit erlangen, wenn sie noch keine F-16 Kampfjets geliefert bekommen hat, noch kann man Minenfelder, die sich über mehrere hundert Kilometer Länge und bis zu 16 Kilometer Breite erstrecken, einfach mal so „umfahren“.
Keine Hurra-Offensive
Hier hilft nur das, was die Ukraine derzeit eben tut: feindliche Artillerie ausschalten, sowie Depots und Nachschubwege zu zerstören, wo immer es nur geht. Und gerade das gelingt ihr derzeit so gut, dass man auf russischer Seite schon von einem „Artillerie-Holocaust“ spricht. Sind feindliche Artillerie und Nachschubwege erst einmal dezimiert, kann man sich mit kleineren Trupps in gepanzerten Fahrzeugen nahe an die feindlichen Stellungen wagen und diese in überfallartigen Angriffen einnehmen. Dann erst findet sich die Zeit, die umgebenden Felder gründlich nach Minen zu durchsuchen. Während all dieser taktischen Operation klären unentwegt Drohnen die Bewegungen des Feindes auf und mit MANPADs ausgestattete Kommandogruppen begeben sich tief hinter die feindlichen Linien, um dort heranfliegende Kampfhubschrauber auszuschalten, die den eigenen Panzern und Fahrzeugen gefährlich werden könnten.
Dieses Vorgehen macht Sinn – ist aber deutlich langsamer, als eine Hurra-Offensive, bei der sich wie im Kino hunderte Soldaten jauchzend ins feindliche Feuer stürzen. Und so befreien ukrainische Truppen Stück für Stück, Tag für Tag, immer mehr besetztes Land. Langsamer, als viele anfangs hofften, aber – und das ist das Wunder – mit deutlich weniger Verlusten, als die Russen. Und das, obwohl die Ukraine diesmal der Angreifer ist und deshalb nach allen militärischen Regeln in etwa dreimal höhere Verluste haben müsste, als die Russen. Aber dem ist nicht so: tatsächlich sind die russischen Verluste in der Regel doppelt oder dreimal so hoch, obwohl sie sich in der Verteidigung befinden.
Das zeigt, dass das Material- und lebenssparende Vorgehen der Ukrainer momentan richtig ist.
Die Ukraine schützt, anders als die Russen, das Leben ihrer Soldaten um jeden Preis, jedes einzelne Leben wird sorgsam abgewogen. Auf russischer Seite ist das anders: Wer hier auch nur einen Schritt zurückweicht, wird von den eigenen Leuten in den Rücken geschossen. Es wurde auch schon vielfach beobachtet, dass russische Soldaten ihre Kameraden, die verwundet sind, oder aus sonstigen Gründen nicht graben können, einfach vor Ort erschießen. In Russland zählt ein Leben nicht viel. In den besetzten Gebieten der Ukraine deshalb auch nicht – das ist Russki Mir, die „russische Welt“, die der Kreml, wenn es nach ihm ginge, gerne auf dem ganzen Planeten sehen würde.