Ukraine-Krieg

Ist Putin ein Kriegsverbrecher?

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Spätestens nach dem Massaker von Butscha wird Putin vorgeworfen, gezielt Kriegsverbrechen zu begehen, beziehungsweise bewusst zu befehligen und somit gegen das Völkerrecht und die Genfer Konvention zu verstoßen.

Während 2021 noch Corona-Maßnahmen und zu geringer Umweltschutz für viele die wichtigsten Themen waren, kämpfen und sterben jetzt täglich Menschen – in einem Krieg mitten in Europa, in dem es bisher bereits zahlreiche Kriegsverbrechen mit vielen zivilen Opfern gab. Wir sahen auf ukrainischer Seite beschossene und teils völlig zerstörte Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Pflegeheime. Leichen von an den Händen gefesselten Zivilisten, Männer, Frauen und Senioren, die erschossen in den Straßen von Butscha lagen.

Bundeskanzler Olaf Scholz, sonst gerne eher zaudernd, dröge und zaghaft unterwegs, hat das in einer Dringlichkeitssitzung deutlich gemacht: „Mit dem Ãœberfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. Das ist Menschenverachtend, das ist Völkerrechtswidrig, das ist durch nichts und niemandem zu rechtfertigen.“

Völkerrechtswidrig. Putin ein Kriegsverbrecher? Was genau ist ein „Kriegsverbrechen“? Und wie wahrscheinlich ist es, dass Putin je aufgrund der von ihm befohlenen oder unter seiner Verantwortung begangenen Verbrechen bestraft wird?

Der Nebel des Krieges

„Nicht wenige Soldaten sind blöd genug, sich selbst zu filmen.“

Zuallererst gilt es, zu bedenken, dass alle Informationen, die man aus einem Kriegsgebiet erhält, mit äußerster Vorsicht zu genießen und genau auf ihren Wahrheitsgehalt überpüft werden müssen. Der Aussage einer Regierung alleine ist hier keinesfalls zu vertrauen. Glücklicherweise leben mir mittlerweile in einem Zeitalter der Kameras – fast jeder Zivilist und Soldat verfügt heute über ein Kamerahandy, vielerorts sind an und in Gebäuden Ãœberwachungskameras angebracht.

Satelliten überfliegen mehrmals täglich das Kriegsgebiet und sorgen für gestochen scharfe Bilder mit einer Auflösung bis zu 30cm (ein Pixel entspricht einer Fläche von 30cm²). Anhand von Videos, die Soldaten und Zivilisten im Kriegsgebiet filmen, lässt sich mittels Geolokalisations-Software relativ einfach anhand markanter Bäume, Gebäude oder Hügel herausfinden, wo sich der Standort des Videos befindet. So gehen übrigens auch russische und ukrainische Militäreinheiten vor, wenn es darum geht, feindliche Stellungen zu finden.

Nicht wenige Soldaten sind leider blöd genug, sich selbst zu filmen und ihre Videos auf Tik Tok oder Twitter zu laden, ohne zu ahnen, dass sie damit ihre Stellung verraten. Ein markantes Detail im Hintergrund reicht schon aus – so wie im Fall eines russischen Reporters, der aus Versehen mit seinen Bildern die Stellung eines russischen Mörsers verriet. Dieser wurde kurz danach erfolgreich zum Ziel ukrainischer Artillerie.

Doch nicht alle Informationen aus dem Kriegsgebiet können eindeutig auf ihren Wahrheitsgehalt identifiziert werden. Man arbeitet mit dem, was man zur Verfügung hat.

Angriff auf eine Entbinungsklinik

Nur ein Fall von vielen bisher dokumentierten Verbrechen:

„Diese Unwahrheiten wurden von russischen Medien gezielt wiederholt.“

Am 9. März wird in Mariupol eine Entbindungsklinik von russischen Raketen getroffen. Nach ukrainischen Angaben sterben drei Menschen bei diesem Angriff, darunter auch ein Kind. Siebzehn weitere Menschen werden verletzt. Unter diesen Verletzten war nach angaben der amerikanischen Nachrichtenagentur auch eine ukrainische Bloggerin, Marianna Vyshemirsky. Marianna war hochschwanger, als ein russischer Luftschlag Anfang März jene Geburtsklinik in Mariupol zum Ziel nimmt, in der sie untergekommen war. Fotografen der Nachrichtenagentur AP dokumentieren, wie sie mit Hab und Gut aus dem Gebäude flieht. Die Bilder gehen um die Welt.

Sie erzählte, wie sie diesen Angriff erlebt hat: am 9. März unterhielt sie sich gerade mit anderen Frauen auf der Station, als eine Explosion das Krankenhaus erschütterte. Sie zog sich eine Decke über den Kopf. Dann gab es eine zweite Explosion. „Man hörte alles herumfliegen, Granatsplitter und so weiter“, sagt sie. „Das Geräusch hallte noch sehr lange in meinen Ohren.“ Die Frauen suchten mit anderen Zivilisten im Keller Schutz. Marianna erlitt eine Schnittwunde an der Stirn und Glassplitter steckten in ihrer Haut, aber ein Arzt sagte ihr, sie müsse nicht genäht werden. Was sie jedoch brauchte, so erklärt sie, war, ihr Hab und Gut aus den Trümmern des Krankenhauses zu holen. Sie bat einen Polizeibeamten, ihr wieder ins Haus zu helfen. „Alles, was ich für mein Baby vorbereitet hatte, lag in der Entbindungsstation“, sagt sie.

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Marianna Vyshemirsky | Foto: AP

Während sie vor dem Krankenhaus stand und darauf wartete, ihre Sachen abzuholen, wurde sie von Journalisten der Associated Press fotografiert. Sie fotografierten sie erneut, als sie die Treppe hinunterging und das Gebäude verließ. Diese Bilder gingen schnell ins Netz. Und da tauchten auf einem kremlfreundlichen Telegramm-Kanal erstmals falsche Behauptungen auf, die Bilder seien „inszeniert“. Mariannas eigener Beauty-Blog wurde benutzt, um zu suggerieren, sie sei eine „Schauspielerin“, die mit Make-up Verletzungen vorgetäuscht habe.

Diese Unwahrheiten wurden von hochrangigen russischen Beamten und staatlichen Medien gezielt wiederholt und verstärkt. Sie behaupteten sogar, dass es sich bei einem Foto einer anderen schwangeren Frau auf einer Bahre ebenfalls um Marianna handelte, obwohl es sich eindeutig um unterschiedliche Personen handelt.

Diese Frau auf der Bahre und ihr ungeborenes Kind sind später an ihren Verletzungen gestorben.

Das sich dieser Angriff tatsächlich zugetragen hat, wurde u.a. von der WHO bestätigt, die automatisch bei Angriffen auf Krankenhäuser und Gesundheitsorganisationen eingeschaltet wird und in diesen Fällen ermittelt. Auch das ein ukrainischer Panzer, der angeblich vor diesem Krankenhaus stand, auf dieses geschossen hätte oder für den Angriff verantwortlich gewesen wäre, konnte widerlegt werden. Fotos des besagten Panzers, die von russischen Medien verbreitet wurden, konnten mittels Geolokalisation klar einem völlig anderen Standort zugewiesen werden; der Panzer war nicht einmal in der Nähe des Krankenhauses.

Tatsächlich gab Russland nach erstem Zögern den Angriff auf dieses Krankenhaus dann auch zu. Man entschuldigte den Angriff nun damit, dass diese Klinik angeblich von ukrainischen Truppen als militärischer Stützpunkt genutzt wurde. Angeblich wären dort schon „lange keine Kinder mehr entbunden“ worden und das Gebäude von „Kämpfern des Azov-Bataillons“ genutzt worden. Und überhaupt würden die Ukrainer ihre eigene Bevölkerung im ganzen Land als menschlichen Schutzschild nutzen, so der russische Außenminister Sergej Lavrov.

Zwei Seiten, zwei Blickwinkel. Doch fast alle Länder, mit Ausnahme der wenigen mit Russland verbündeten, gehen bei diesem Vorfall allerdings mittlerweile klar von einem Kriegsverbrechen aus.

Das Grauen von Butscha

„Die Beweise wiegen schwer.“

Als Massaker von Butscha wird eine Reihe von Kriegsverbrechen in der Stadt Butscha (Oblast Kiew), einem Vorort von Kiew, bezeichnet, die im Frühjahr 2022 während der Schlacht um Kiew durch Angehörige der russischen Streitkräfte an der ukrainischen Zivilbevölkerung begangen wurden. Nachdem die russischen Streitkräfte Anfang April 2022 nach etwas mehr als einem Monat abgezogen waren, wurden laut ukrainischen Angaben bis im August 2022 (Schlussbilanz) 458 Leichen gefunden, von denen 419 Anzeichen dafür trugen, dass sie erschossen, gefoltert oder zu Tode geknüppelt worden waren.

Fast alle Toten waren Zivilisten.

Alle Fälle werden von Ermittlern für Kriegsverbrechen untersucht. Russland wird vorgeworfen, gezielt Massaker an ihnen verübt zu haben. Die russische Regierung bestreitet eine Beteiligung russischer Soldaten an den Folterungen und Tötungen.

Doch die Beweise gegen die russischen Soldaten wiegen schwer. Russland behauptet, die Bilder des Massakers in Butscha seien von Ukrainern inszeniert worden. Satellitenbilder zeigen aber bereits vor dem russischen Abzug Leichen in den Straßen. Das russische Verteidigungsministerium hatte die Bilder als „Fälschungen“ bezeichnet. Demnach seien die Leichen noch nicht dort gewesen, als die russischen Streitkräfte am 30. März abgezogen waren. Maxar-Satellitenbilder vom 19. und 21. März zeigen jedoch, dass sich bereits zu diesem Zeitpunkt mehrere Leichen auf der Yablonska-Straße in Butscha befanden. Die New York Times verglich die Satellitenbilder mit diversen Aufnahmen von ukrainischen Beamten und internationalen Medien und bestätigte, dass einige der Leichen sich bereits Wochen vor dem russischen Abzug in der gezeigten Position befunden hätten. Die Bilder von den Leichen mutmaßlicher Zivilistinnen hatten international Bestürzung ausgelöst.

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Butscha | Foto: Reuters

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1 Kommentar

  1. Danke für diesen wirklich guten und informativen Artikel.

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