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Das Erdbeben und der Feuer-Tornado von Kanto

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1923 wird eine der grössten Städte der Welt zerstört. Von einem Erdbeben und einem Feuersturm. Von einer Naturkatastrophe, die ganz Japan in ein nationales Trauma stürzt. Das grosse Erdbeben von Kanto fordert mehr als 120.000 Menschenleben und verändert den Lauf der Geschichte.

Die Millionenmetropole Tokyo mitten in der Grossregion Kanto ist gleich zweimal buchstäblich aus ihrer Asche auferstanden. Im März 1945 lassen die Brandbomben amerikanischer Kampfflieger nahezu ganz Tokyo in Flammen aufgehen. Schon 22 Jahre zuvor, im September 1923, wurde die Stadt von einer vergleichbar zerstörerischen Katastrophe heimgesucht: dem grossen Kanto Erdbeben.

Ein Beben, wie es noch niemand erlebt hat

Als die Katastrophe schliesslich eintritt, erhalten die Koreaner die Rolle des Sündenbocks.

1923 lebt ein Viertel der Bevölkerung in der Region Kanto rund um die Bucht von Tokyo. Yokohama ist der grösste Seehafen des Inselstaates – und sein Tor zur Welt. Tokyo ist die Hauptstadt des Kaiserreichs, in der das 20. Jahrhundert noch auf Relikte des mittelalterlichen Japan trifft.

Am Vorabend des Erdbebens war Tokyo, wie viele andere Städte, eine pulsierende Metropole. Die japanische Wirtschaft entwickelte sich schnell. Zu Anfang des letzten Jahrhunderts waren die Strassen noch voller Rikschas und Ochsenkarren. Um 1920 gab es bereits ein Strassenbahnnetz. Auf den Strassen sah man immer mehr Autos. Tokyo demonstrierte den Fortschritt.

Im alten Rotlichtbezirk Yoshiwara werden Mädchen wie seit Jahrhunderten als Sklavinnen und Prostituierte verkauft. Sie sind Gefangene in den Bordellen, während für millionen Menschen um sie herum ein neues, fortschrittlicheres Leben ansteht.

Nach Jahrhunderten der Isolation öffnet sich das Land dem westlichen Handel und zieht reiche ausländische Unternehmer an. Mit seinem wirtschaftlichen Aufbruch wächst die Bedeutung Japans in der Welt, auch als Militärmacht. Bis 1910 hat seine Armee bereits erfolgreich gegen China und Russland gekämpft und Korea als Kolonie unterworfen. Von den Segnungen eines zusehends westlichen Lebensstils aber bleibt der Nachbarstaat Korea ausgeschlossen. Die Koreaner mussten jede nur erdenkliche Demütigung als Minderheit ertragen. Als die Katastrophe schliesslich eintritt, erhalten die Koreaner die Rolle des Sündenbocks.

90 Prozent aller Gebäude brechen zusammen

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Bucht von Tokyo

1. September 1923, um zwei Minuten vor Zwölf. Acht millionen Menschen bereiten sich in Yokohama aufs Mittagessen vor. Es brennen zahllose offene Feuer. Während die Prostituierten in Yoshiwara noch schlafen, werden jenseits der Bucht, im Grand Hotel von Yokohama bereits die ersten Cocktails gereicht.

Bis heute leben beide Städte mit der permanenten Gefahr eines Erdbebens. Alle zwei bis drei Wochen spüren die Menschen hier leichte Erschütterungen. Ein Prozent aller Erdbeben weltweit ereignen sich genau hier. Die Ebene von Kanto liegt an den Rändern zweier riesiger tektonischer Platten, die ständig gegeneinander drücken – bis die aufgestaute Energie zu gross wird.

Das Resultat: ein Mega-Erdbeben der Stärke 7.9 – mehr als die meisten Seismographen messen können. Etwa alle dreissig bis sechzig Sekunden gab es eine Welle von Erdstössen. Viele Menschen sagen, es gipfelte in einer gewaltigen Rollbewegung – als wäre man auf dem Meer und Wellen brächen über das Boot hinein. Sehr grosse Wellen. Ein so ungeheures Beben, das es 90 Prozent aller Gebäude in Yokohama in sich einstürzen lässt: sie fallen einfach in sich zusammen.

An diesem 1. September des Jahres 1923 bricht um die Mittagszeit für acht Millionen Menschen buchstäblich die Welt zusammen.

Die ersten Opfer – Gefangen in einem Zug

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Ein einziger Wagon blieb übrig

Das Epizentrum des grossen Bebens liegt nur 25 Kilometer vor der Bucht. Zu den ersten die von den Erdstössen getroffen werden, zählen die Passagiere eines Zuges auf der Küstenstrecke. In Nebukawa, einer Ortschaft südwestlich von Tokyo, hält der Zug mitten auf der Brücke über einer Schlucht. Der Lokführer wartet auf das Signal zur Weiterfahrt. 113 Menschen sind an Bord, als die Uhr zwei Minuten vor zwölf zeigt. Es bricht Panik aus, Koffer und Gepäckstücke fallen aus den Ablagen über den Sitzen. Mehrere Sekunden lang dauern die Erdstösse an. Der Zug schwankt, doch die Brücke hält. Noch.

Doch dann passiert es: plötzlich ist ein dumpfes Grollen zu hören und die Menschen blicken um sich. Von den Bergen hinter der Brücke stürzen Schlammmassen herab, die das Erdbeben gelöst hatte. Eine riesige Lawine aus Schlamm und Geröll rutscht in die Schlucht hinab. Sie trifft den Zug mit voller Wucht. Er stürzt von der Brücke, einhundert Meter in die Tiefe. Anschliessend spülen die Schlammfluten ihn in die Bucht. Bis auf einen Wagon wird der gesamte Zug in den Abgrund gerissen – und mit ihm mehr als einhundert Passagiere. Gigantische Mengen Felsgestein rutschen die Berge hinab und rasen in das darunter liegende Tal.

Nachdem der Erdrutsch den Zug erfasst hatte, begrub er die Ortschaft in der Schlucht: einige dutzend Häuser, in denen dreihundert Menschen unter dem Schlamm begraben wurden. In nur fünfzehn Sekunden waren rund 450 Menschen gestorben. Einer der dramatischten Momente dieses Erdbebens.

Tod und Zerstörung breiten sich von dem Epizentrum über die gesamte Ebene von Kanto aus. Die unbändige Naturgewalt braucht nur dreissig Sekunden, um im Hafen von Yokohama 90 Prozent aller Gebäude dem Erdboden gleich zu machen.

Auf der nächsten Seite: Bordelle werden zur Todesfalle.

Die Katastrophe

„Ich sah eine tote Mutter und ihr Kind in einem See voller Trümmer treiben.“

Die achtzehnjährige Tei Suzuki hat das Beben überlebt – viele andere hatten weniger Glück. Die heute 108-jährige Zeitzeugin erlebt den September 1923 als junge Apothekenhelferin und wurde Zeugin des schlimmsten Erdbebens in der Geschichte Japans. „Ich bereitete gerade einige Rezepte vor. In unserem Krankenhaus befanden sich zwischen fünfzig und zweihundert Menschen. Es begann ganz plötzlich.“, erzählt Suzuki, „am Anfang hörten wir ein Rumpeln. Die Menschen riefen ‚Raus hier! Raus hier!‘ und alle versuchten zu fliegen.“

Die Leute begriffen sofort, das dies ein starkes Erdbeben sein musste. Allerdings wurden die nächsten Erdstösse immer heftiger und selbst erfahrene Seismoligen erkannten, das dies kein normales Erdbeben mehr war. Keines wie sie es bisher jemals erlebt hatten. Noch heute kommen Tei Suzuki die Tränen, wenn sie über jenen schicksalhaften Tag berichtet: „Da lagen neun oder zehn Menschen leblos übereinander. Ich sah eine tote Mutter und ihr Kind in einem See voller Trümmer treiben. Ich hatte keine Angst, sondern fühlte überhaupt nichts. Ich war einfach… überwältigt.“

Tei Suzuki und viele andere glauben, die Katastrophe sei überstanden. Ein schrecklicher Irrtum.

Bordelle werden zur Todesfalle

Schon lange vor 1923 war Tokyo bereits ein Ballungsraum von sehr dicht beieinander gebauter Holzhäusern. Dazwischen enge, verwinkelte Gassen. Ein hölzernes Pulverfass, das nur auf den zündenen Funken zu warten scheint. Und er kommt zur denkbar ungünstigsten Zeit. Das Beben geschieht mittags, als die Menschen auf offenem Feuer kochen.

Knapp eine Stunde nach dem Erdbeben nimmt die eigentliche Katastrophe ihren Lauf. Der Rotlichtbezirk Yoshiwara steht in Flammen. Die Prostituierten in den vielen Bordellen des Viertels sitzen in der Todesfalle. Die Betreiber wollen ihre wertvolle Einnahmequelle nicht verlieren und sperren die Frauen deshalb in den Häusern ein. Die Tore sind verschlossen, so das sie nicht fliehen können. Die eingeschlossenen Mädchen geraten in Panik, während sich eine riesige Feuerwalze durch das Viertel frisst.

Als die Flammen immer näher kommen, öffnen die Zuhälter die Bordelle und bringen die Frauen in einen Park mit einem kleinen Teich. Sie glauben, hier seien sie in Sicherheit. Die riesige Feuerwand lässt den Teich als guten Schutzort erscheinen, doch die Frauen laufen in ihr Verhängnis. Einer nach der anderen springen in den Teich, während die Flammen bereits die Ränder des Parks erreicht haben. In panischer Angst flüchten immer mehr Frauen ins Wasser. Mit der Zeit werden es so viele, das sie jene Frauen, die sich am Rand des Teichs festklammern, in die Mitte drücken. Während die einen hineindrängen, ertrinken andere bereits. Gleichzeitig regnet die glühende Asche des Feuers auf den Teich herab.

Innerhalb weniger Minuten ist das Wasser aufgewühlt von einer brennenden Menschenmasse, die sich in Panik zu retten versucht. Als die Feuer am späten Nachmittag erloschen waren, zog man schliesslich die Körper von 490 toten Frauen aus dem Teich. Die ältesten von ihnen gerade einmal neunzehn Jahre alt.

40.000 Menschen – eingekesselt vom Feuersturm

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Feuer-Tornado

In Tokyo und Yokohama lodern hunderte grosser Brände. Doch es kommt noch schlimmer. Zur gleichen Zeit erreicht ein Taifun die Küsten Japans. Doch er bringt nicht Regen, der die Flammen löschen könnte, sondern kräftigen Wind, der erst recht eine Flammenhölle entfacht. Dies erklärt, mit welcher Geschwindigkeit und Kraft die vielen Brände die Stadt zerstörten.

Auch der Bezirk Honjo steht in Flammen. Doch das dicht besiedelte und mit engen Holzhäusern bebaute Stadtviertel grenzt an eine grosse Fläche Brachland. Als die Flammen bereits die Häuser verzehren, fasst der örtliche Polizeichef einen folgenschweren Entschluss: die Bewohner sollen auf dem offenen Gelände Schutz suchen. Er dirigiert schliesslich fast 40.000 Menschen auf dieses offene Stück Land. Es scheint in der Tat ein sicherer Ort zu sein, weil es dort keine Gebäude gibt, die Feuer fangen können.

Nun stehen die Menschen dicht gedrängt auf diesem Gelände. Sie begreifen die Situation nicht: das die Brände von allen Seiten näher kommen – und gegen drei Uhr Nachmittags sitzen sie alle in der Falle. Um sie herum tobt ein gewaltiger Feuersturm. All diese Menschen, 40.000 an der Zahl, werden in den folgenden fünfzehn Minuten sterben.

Die Menschen drängen sich immer dichter zusammen, viele haben Bettzeug bei sich und sogar Möbelstücke, die sich plötzlich zu entzünden beginnen. Die Feuer sind so heiss, das alles brennbare sofort in Flammen aufgeht – sogar die Kleidung, die sie am Körper tragen. Ãœber der Brandhölle von Honjo ist kein Tageslicht mehr zu sehen. Die Luft heizt sich wie ein Glutofen auf. Und dann geschieht etwas merkwürdiges: inmitten der dichten Wand aus Rauch und Feuer erhebt sich eine monströse Kraft der Natur – der tödliche Wirbel eines riesigen Feuer-Tornados.

Nach dem Beben, dem Erdrutsch und der Feuersbrunst rasen nun etliche brennende Tornados durch Tokyo und Yokohama. Der mit Abstand grösste von ihnen wütet in Honjo. Eine Verkettung von tragischen Umständen findet ihren tödlichen Höhepunkt dort, wo mehr als 40.000 Menschen Schutz suchen.

Auf der nächsten Seite: Eine Zerstörung von apokalyptischen Dimensionen.

Eine Zerstörung von apokalyptischen Dimensionen

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Nach dem Feuer-Tornado

In der Geschichte der Naturkatastrophen hat man oft von Feuer-Tornados gehört. Doch dieser ist der grösste, der je gesehen wurde: ein 300 Meter breites Monstrum aus extrem heissen Flammen und Hurricane-artigen Winden, das die Hitze 200 Meter hoch aufwirbelt und dabei mit 200 Stundenkilometern rotiert. Viele Menschen werden in die Luft gerissen und verschwinden einfach. Ganze Familien verschwinden spurlos im glühend heissen Sog. Ihre Leichen werden nie gefunden.

Nur wenige Minuten später ist der Spuk zu ende. Die wenigen Überlebenden auf dem Platz sind unter Bergen von toten, verbrannten Körpern begraben. Man sieht Leichen, so weit das Auge reicht. Sie füllen den gesamten Platz aus. Inerhalb von fünfzehn Minuten ist der glühende Wirbelsturm dreimal über das Gelände hinweg gefegt.

Am nächsten Tag erkennt der Polizeichef von Honjo, der all diese Menschen auf das Gelände führte, das er mit seiner Schuld nicht mehr leben kann. Seine falsche Entscheidung hat so vielen Menschen das Leben gekostet, das auch er nun sterben will. Er folgt einem alten Ritual der japanischen Samurai und nimmt sich das Leben.

Die Region Kanto beklagt Zerstörungen von apokalyptischen Ausmassen. Tokyo und Yokohama sind dem Erdboden gleich gemacht. Ein Albtraum. Doch die Katastrophe ist noch nicht vorbei. Bisher wütete die Natur. Nun sind es die Menschen.

In den Trümmern regiert ein wütender Mob

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Jagd auf Koreaner

Für die Kolonialmacht Japan galten die besiegten Koreaner als unzufriedene Aufrührer, die ihre Autorität nicht anerkannten und herausforderten. Sie standen im Ruf, unzuverlässig und unglaubwürdig zu sein. Es hiess: „wenn du ihnen den Rücken zuwendest, fallen sie über dich her“.

Aus irgendeinem Grund greift man sich immer die wehrlosesten Mitglieder einer Gesellschaft heraus. Gerüchte behaupteten, das die Koreaner von der Katastrophe profitierten, wenn nicht sogar daran schuld waren, und so findet man in der koreanischen Minderheit ein leichtes Opfer. In Yokohama werden sie schon Stunden nach dem Erdbeben buchstäblich gejagt und abgeschlachtet. Nach dem Erdbeben und der Flammenhölle wütet nun ein mordgieriger Mob. In den Trümmerwüsten von Tokyo und Yokohama regieren gewalttätige Banden. Frauen, Kinder, Männer – die Mörder verschonen niemanden. Es ist eine Tötungsorgie, die tagelang andauert.

Man geht von 6.000 Menschen aus, die dabei vorsätzlich umgebracht wurden. Insgesamt schätzt man die Todesopfer des grossen Erdbebens von Kanto auf 120.000 Personen.

„Ich glaube nicht, das der Tod das Ende von allem ist“, sagt Tei Suzuki mit zittriger Stimme. „Jedes Jahr am 1. September schicke ich Geld oder wenigstens eine Tasse Sake zu unserem Familientempel. Wir haben ein eigenes Gebet, das uns an die verstorbenen jenes Tages erinnert.“

Auf dem einstigen Brachland von Honjo steht heute eine Gedenkhalle. Sie birgt Urnen mit der Asche jener 40.000 Menschen, die im Jahr 1923 an dieser Stelle binnen einer Viertelstunde umkamen.

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