Mangel an Soldaten
„Ein schlecht ausgebildeter Soldat taugt höchstens als Kanonenfutter.“
Angriff ist schwieriger, als Verteidigung. Diese Weisheit kennt jede Armee der Welt – nur die russische nicht. Dort scheint man vergessen zu haben, dass der Angreifer dem Verteidiger in der Regel mit einem Verhältnis von 3:1 überlegen sein muss, um genug Druck gegen die Stellung des Gegners ausüben zu können. Was das angeht, kann die Ukraine auf über 1000.000.000 Soldaten zurückgreifen – eine der größten Armeen der Welt! Tatsächlich handelt es sich hier zum größten Teil nicht um gut ausgebildete Soldaten, sondern meist um eingezogene Zivilisten, denen man nur eine kurze Ausbildung zuteil kommen liess – aber verteidigen ist nun mal weniger anspruchsvoll, als einen Angriff auszuführen.
Mittlerweile erhalten sogar tausende ehemalige ukrainische Zivilisten, die sich freiwillig den Streitkräften angeschlossen haben oder einberufen worden sind, eine solide, mehrwöchige Militärausbildung nach NATO-Standards in den Niederlanden, Polen, UK, Deutschland und weiteren NATO-Staaten, während den Russen die Soldaten knapp werden. Während die ukrainischen Soldaten also eine immer bessere Ausbildung erhalten und deren Zahl weiter wächst, werden in Russland, wo man ja tunlichst eine Generalmobilmachung vermeiden möchte, die Soldaten knapp.
Nun ködert man in Russland junge Männer mit irrwitzig hohem Sold (der erst ausbezahlt wird, wenn man den Spaß auch ein halbes Jahr überlebt) und spendiert ihnen nur eine Ausbildung von wenigen Tagen! Ein derart schlecht ausgebildeter Soldat taugt höchstens als Kanonenfutter für die Front und hat sonst keinerlei Nutzen für seine Armee. Eine Ausbildung zum Artilleristen dauert nicht umsonst Monate – denn zielen kann hier nur, wer Formeln kennt und ballistische Flugbahnen berechnen kann. Aber selbst diese, seit dem Zweiten Weltkrieg gepflegten Traditionen, scheinen dem russischen Kommando mittlerweile egal – Hauptsache, man bekommt genug Fleisch an die Front, um irgendwie Meter für Meter zu gewinnen – unter unglaublich hohen Verlusten.
Eine Generalmobilmachung möchte man in Russland vermeiden, denn dort soll bitte nichts an „Krieg“ erinnern. Während der Bevölkerung vorgelogen wird, es handele sich nur um eine „militärische Spezialoperation“ und nicht um einen handfesten Krieg mit mittlerweile an die 50.000 russischen Verlusten, rekrutiert man fleißig am Rande Russlands in den armen Minderheiten, die sowieso schon kaum Rechte hatten, verglichen mit den Klasse A Russen in Moskau und anderen Großstädten. Und genau diese Klasse-A Russen, in Russland „Grossrussen“ oder „Zentralrussen“ genannt, werden die letzten sein, die jemals in einen Krieg einberufen werden. Vorher verheizt man lieber seine Minderheiten, jene Ethnien, die sich zwar „Russen“ nennen dürfen, es aber im Grunde nie wirklich waren.
Die Anzahl der gut ausgebildeten Soldaten schwankt auf russischer Seite extrem und reicht von tschetschenischen „TikTok-Kämpfern“, die ihren Spitznamen erhalten haben, weil sie sich gerne vor Kämpfen drücken und stattdessen lieber mit ihren Waffen vor Handykameras posieren, bis hin zu Söldnern der Wagner-Gruppe mit mehrjähriger Kampferfahrung. Doch die Anzahl der besser ausgebildeten Soldaten auf russischer Seite – die schon seit Beginn des Krieges nicht besonders hoch war – sinkt mit Dauer der Kämpfe extrem und fällt momentan fast schon ins Bodenlose. Spätestens mit dem Beschuss des Wagner-Hauptquartiers in Popasna wurde ein bedeutender Teil der Söldnergruppe mit einem Schlag ausgelöscht, selbst der Administrator der Wagner-Telegram-Gruppe soll diesen Angriff nicht überlebt haben, die seitdem quasi nicht mehr „sendet“. In letzter Zeit rekrutierte man in Russland sogar Mörder und Vergewaltiger aus Gefängnissen, um sie als Ersatz für gefallene Soldaten an die Front zu schicken. Das zeigt, wie knapp Russlands menschliche Ressourcen auf dem Schlachtfeld sind – wer möchte da noch den Luxus einer Kampfausbildung voraussetzen?
Einmal „Krieg Light“, bitte!
Bei einer Generalmobilmachung könnte man in Russland immerhin auf mehrere Millionen Soldaten zurückgreifen – die dann aber noch nicht einmal vernünftig ausgestattet wären. Schon jetzt wurden viele russische Soldaten in der Ukraine gefangen genommen, deren Uniform aus völlig zusammengewürfelten Stücken bestand. Ende Februar klagten viele russische Soldaten in abgehörten Telefonanrufen nach Hause über Frostbeulen und bewunderten die vorbildlichen Medipacks der ukrainischen Soldaten, währen sie selbst noch nicht einmal Tourniquets (Aderpressen zum Abbinden von Arterien) hatten.
Wenn Russland es noch nicht einmal schafft, diese Soldaten ordentlich auszurüsten, wie stünde es dann bei einer Generalmobilmachung? Und in welche Panzer sollte man diese Männer dann setzen, wenn dank der Sanktionen jetzt schon kaum noch neue vom Band laufen und bereits uralte T-62 Panzer von der Schrotthalde geholt werden? Es fehlen dringend westliches Know-How, Ersatzteile, Herstellungs- und Halbleitertechnik. Schon vor den Sanktionen war das russische Militär immer noch stark veraltet und durch den Ukraine-Krieg mittlerweile stark ausgeblutet, bei einer Generalmobilmachung könnte man den Soldaten eigentlich nur noch Mosin-Nagant-Repetiergewehre in die Hand drücken, die noch zur Zarenzeit konstruiert wurden und bereits in den Händen zwangsrekrutierter russischer Kämpfer in der Donetsk-Region gesehen wurden. Von abhörsicheren, digitalen Funkgeräten könnte man dann nur träumen und müsste, wie es momentan oft der Fall ist, auf die unsichere Kommunikation via Handy zurückgreifen.
Da der Krieg in der Ukraine aus russischer Sicht gar kein „echter“ Krieg ist, gibt es, rechtlich gesehen, auch keine Deserteure. Wer keine Lust mehr hat, zu sterben oder sich nicht verstümmeln lassen möchte, kann einfach den Dienst quittieren und nach Hause gehen. Fahnenflucht an sich gibt es nicht, da man sich ja nur für eine „Spezialoperation“ verpflichtet hat. Offiziell zumindest. Aber: wer den Dienst vorzeitig quittiert, bekommt keinen Sold und kein Entlassungsgeld ausgezahlt. Zudem wird auf die Soldaten starker psychologischer Druck ausgeübt. Das geht bis hin zu Drohungen („Dir könnte auf dem Weg nach Hause etwas passieren“) oder der Bedrohung von Familienmitgliedern. Tatsächlich wird von vielen Soldaten berichtet, die ihren Dienst quittieren wollten und danach plötzlich spurlos verschwanden oder kurz darauf als „gefallen“ gemeldet wurden.
Nicht wenige russische Soldaten versuchen deshalb, durch das Ausstellen eines ärztlichen Attests gegen hohe Bestechungsgelder, ihren Dienst zu quittieren. Andere stecken das eigene Fahrzeug in Brand oder schießen sich in das eigene Bein, um von der Front weg zu kommen. Aber selbst das klappt nur in den wenigsten Fällen, denn russisch besetzte Krankenhäuser und Lazarette verweigern Soldaten, die nicht lebensgefährlich verletzt sind, in vielen Fällen die Behandlung – die Soldaten werden einfach zurück an die Front geschickt.
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